Im Gespräch mit Nirit Sommerfeld: „Die Kirchen sind relativ mächtig in Jerusalem“

Die israelisch-deutsche Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin Nirit Sommerfeld spricht darüber, wie Jerusalem sich seit den 1960er Jahren gewandelt hat und wie sie das Miteinander der Menschen unterschiedlicher Religionen und Ethnien wahrnimmt.

Was verbinden Sie persönlich mit Jerusalem?

Jerusalem ist die Geburtsstadt meiner Mutter, viele meiner Verwandten leben dort. Anfang der 1960er Jahre wurde ich in Eilat geboren, in meiner Kindheit sind wir oft nach Jerusalem gefahren. Die engen Gassen der Altstadt, den Felsendom, das Konglomerat der unterschiedlichen Kulturen und Religionen: all das kenne ich von klein auf. Mit Jerusalem verbinde ich aber auch den Tod dreier Menschen aus meiner Familie: Als meine Mutter zehn Jahre alt war, tötete eine Granatbombe ihren Bruder, ihren Onkel und ihren Großvater. Die Familie lebte nahe des Mahane Yehuda Marktes, in einem damals hauptsächlich von arabischen Juden bewohnten Viertel. Die Bombe verfehlte ihr Ziel und explodierte versehentlich an einer Zypresse. Das war unmittelbar nach Ausrufung des Staates Israel im Mai 1948, während der Kämpfe um Jerusalem zwischen der jordanischen Armee und israelischen Truppen.

Wie erleben Sie die Stadt heute?

Heute erlebe ich Jerusalem vor allem als geteilte Stadt: Während der Westteil von Grünflächen, gepflegten Häusern und Cafés geprägt ist, sehe ich im Ostteil viele abgerissene Häuser und Müll. Obwohl die Einwohner Ost- und Westjerusalems gleich hohe Stadtsteuern, Arnona, zahlen, gibt es im Osten weniger Grünflächen, weniger Kindergärten – es ist eine ganz andere Infrastruktur. Das spiegelt sich auch in den völlig voneinander getrennten Transportsystemen. Die Israelis nutzen die grünen Busse, es gibt einen High-Tech-Zug zum Flughafen Tel Aviv und die Straßenbahn, die nur jüdische Viertel bedient. Die PalästinenserInnen nutzen die blau-weißen und weiß-grünen Busse, die durch Jerusalem Richtung Bethlehem oder Ramallah fahren. Also eine absolute Trennung und ungleiche Machtverhältnisse.

Und die BewohnerInnen Jerusalems, wie gehen die miteinander um?

Auf der persönlichen Ebene ist das gut, so habe ich es jedenfalls erlebt. Egal ob ich mich in ein palästinensisches Café gesetzt habe oder in ein österreichisches – angefeindet wurde ich nie. Je nachdem, auf wen man trifft, ergeben sich natürlich ganz unterschiedliche Gespräche. Manchmal sagen mir arabische Männer nach nur zwei, drei Sätzen: Vor kurzem wurde das Haus meiner Verwandten abgerissen, wie könnt Ihr Israelis das machen? Und manchmal stellen wir nach ein paar Sätzen fest, dass wir gemeinsame Bekannte in Jerusalem haben und Politik spielt kaum eine Rolle.

Gibt es auch engere Kontakte zwischen den unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gemeinschaften in Jerusalem und Israel?

Es gibt natürlich Organisationen wie zum Beispiel den parents circle, in dem israelische und palästinensische Familien sich gemeinsam für ein friedliches Miteinander einsetzen. Ansonsten gibt es in meinem Bekanntenkreis kaum mehr als eine handvoll Menschen, die sich trauen, auf die andere Seite zu gehen und mit PalästinenserInnen zusammenzutreffen. In Jerusalem wären Kontakte auf der privaten Ebene zwar möglich, doch da die israelischen Kinder mittlerweile kein Arabisch mehr lernen und viele palästinensische Kinder kein Hebräisch mehr, gibt es insgesamt sehr wenig Begegnung. Bei uns Zuhause wurde früher Arabisch geredet, denn meine Mutter stammte aus einer jüdischen Familie in Marokko.

Wie nehmen Sie die ChristInnen in Jerusalem wahr?

Meiner Wahrnehmung nach leben die vielen unterschiedlichen christlichen Gemeinden, seien es die Syrisch-Orthodoxen, die Armenier, die Griechen, Katholiken oder Lutheraner hervorragend mit Juden und Muslimen zusammen. Aber man muss auch sagen, dass die Vielfalt der Religionen und Kulturen in Jerusalem, die sich vor allem in der Altstadt zeigt, im Grunde nur auf die Möglichkeit eines Zusammenlebens hindeutet. Letztlich ist es nur eine scheinbare Möglichkeit, die sich aber kaum realisiert.

Viele christliche Familien haben sich in den letzten Jahren entschieden, Jerusalem oder die Westbank zu verlassen und auszuwandern. Aus wirtschaftlichen und auch aus politischen Gründen. Ist die christliche Präsenz in Jerusalem gefährdet?

Die Kirchen sind relativ mächtig in Jerusalem. Der israelische Staat wird ihnen weder ihre Kirchengebäude, noch andere Immobilien und Grundstücke streitig machen. Dafür ist die Bedeutung Jerusalems als Ort des Wirkens und Sterbens Jesu Christi zu wichtig. Es gibt so viele TouristInnen und PilgerInnen, die aus der ganzen Welt kommen. Das wird erhalten bleiben. Was die ökonomische Seite betrifft: Da gibt es in der Altstadt tendenziell einen Niedergang der christlichen Geschäfte.

Sie engagieren sich für ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinenser*innen. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich trete für gleiche Rechte für alle ein. Eine gute Gesellschaft lässt Diversität zu, sie ist multireligiös, binational und wird nicht von Grenzen bestimmt. Es geht dabei um Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Würde für alle StaatsbürgerInnen. Momentan werden Menschen in Israel entrechtet, weil sie nicht jüdisch sind – für so einen Staat ist mein Vater nicht in den Unabhängigkeitskrieg gezogen.

Aber ist die Vorstellung von einer friedlichen Gesellschaft ohne Begrenzungen realistisch? Es gibt immer wieder Terrorangriffe gegen jüdische StaatsbürgerInnen, sehen Sie da keine Gefahr?

Die PalästinenserInnen haben nach der zweiten Intifada ihre Strategie geändert. Die Mehrheit von ihnen wünscht sich ein friedliches, normales Leben und eine Perspektive für ihre Familien. Und was für eine Perspektive haben palästinensische Jugendliche unter den momentanen Umständen?

Sie sind Schauspielerin und Sängerin, seit 20 Jahren treten Sie mit dem Orchester „Shlomo Geistreich“ auf. Geht es in Ihrer Musik auch um politische Themen?

Anfangs war Klezmer für mich sehr prägend, über die Musik habe ich erst einen Bezug zum Jiddischen entwickelt. Das war die Sprache meiner väterlichen Vorfahren, die alle im Holocaust ermordet worden sind. In meiner Musik erzähle ich Geschichten. Zum Beispiel die meines Großvaters Julius, den Vater meines Vaters. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg für Deutschland und war ein hochdekorierter Offizier. Seine Landsleute haben ihn in der Shoah umgebracht, weil er Jude war. Im Laufe der Jahre habe ich dann ganz unterschiedliche Themen umgesetzt. Gemeinsam mit einer syrischen Tänzerin habe ich eine Geschichte über jüdische und muslimische Frauen entwickelt, in dem Theaterstück „reality check“ und dem Programm „Daheim entfremdet“ setze ich mich mit meinem Land, mit Israel, auseinander.

Ihr zweites Land ist Deutschland. Wie geht es Ihnen damit? Finden Sie, dass wir Deutschen entschieden genug gegen Antisemitismus vorgehen?

Nein. Leider führt der Rechtsruck, der derzeit auch durch andere Gesellschaften geht, in Deutschland zur Zunahme von Antisemitismus und Rassismus: also zu einer Ablehnung all dessen, was vermeintlich nicht deutsch ist. Für mich ist Antisemitismus immer Ausdruck einer rechten Gesinnung. Und diese wird eindeutig zu wenig bekämpft. Ein anderes Problem ist, dass der Vorwurf des Antisemitismus von manchen Menschen instrumentalisiert wird. Ich bin die Tochter eines Holocaust-Überlebenden, der 1948 für Israel gekämpft hat. Und weil ich gegen die Besatzung eintrete und die Regierung Netanjahus kritisiere, wirft man mir hierzulande Antisemitismus vor.

 

Das Interview führte Silke Nora Kehl.

 

About

Nirit Sommerfeld wurde 1961 in Eilat geboren. Die Schauspielerin und Sängerin wuchs in Israel, Ostafrika und in Deutschland auf. Sie lebte lange Jahre in der Nähe von München und von 2007 bis 2009 mit ihrer Familie in Tel Aviv. Sie engagiert sich im Verein „Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern“, den sie 2016 mit gründete, und ist Mitglied der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“. Sie leitet regelmäßig Reisen nach Israel und Palästina.

 

Foto: Nirit Sommerfeld, © Sandra Mohr