Mitri Raheb: „Die Corona-Pandemie trifft Bethlehem hart. Weihnachten werden wir dieses Jahr anders feiern.“

Seit dem Lockdown im März kommen keine internationalen Tourist*innen mehr nach Bethlehem. Für die Menschen in der Region ist das eine wirtschaftliche Katastrophe, sagt Mitri Raheb. Der Bethlehemer Pfarrer und Hochschulpräsident spricht über die aktuelle Lage und darüber, wie sich der überlieferte Geburtsort Christi auf Weihnachten vorbereitet. Hier lesen Sie den zweiten Teil seines Gesprächs mit Silke Nora Kehl, im ersten Teil des Interviews geht es um das 25-jährige Jubiläum der Hochschule Dar al-Kalima.

Das Leben in Bethlehem ist derzeit – wie an vielen Orten weltweit – von der Corona-Pandemie geprägt. Im Frühsommer haben Sie eine Broschüre mit dem Titel „The Double Lockdown“ herausgegeben: Wie ist die Lage momentan?

Bethlehem war Anfang März der Ausgangspunkt der Corona-Pandemie in der Westbank: Hier gab es die ersten Fälle. Im Frühjahr hatten wir eine Ausgangssperre von mehr als 80 Tagen, seitdem gab es in Palästina keinen Lockdown mehr. Obwohl sich hier schon sehr viele Menschen mit dem Virus infiziert haben, und die Zahlen weiterhin hoch sind, gibt es glücklicherweise nur wenige kritische oder gar tödliche Verläufe von Covid-19. Denn im Unterschied zu Deutschland sind hier 70 Prozent der Bevölkerung unter 27. Die wirtschaftlichen Probleme sind dagegen immens: Bethlehem hängt zu 70 Prozent vom Tourismus ab, vor allem die christliche Bevölkerung. Durch die Pandemie ist der Tourismus komplett zum Erliegen gekommen, und bis sich alles wieder normalisiert, wird es vermutlich drei bis vier Jahre dauern. Ich bin durch elf Kriege gegangen, aber eine wirtschaftliche Katastrophe von diesem Ausmaß habe ich noch nie erlebt. Die Armut wird in Bethlehem rasant steigen, vor allem unter Christ*innen. Grundsätzlich sind wir aufgrund der Besatzung hier Ausgangssperren und Checkpoints gewohnt, daher spreche ich von einem doppelten Lockdown (double lockdown). Dennoch haben wir während der Pandemie drei Bauprojekte vollenden können.

Läuft das Studium am Dar al-Kalima-College denn wieder wie gewohnt?

Ja. Vieles läuft online, aber grundsätzlich kommen unsere Student*innen auch auf den Campus: Seminar und Kurse finden statt, das Leben geht weiter. Aber jede Woche haben wir eine Infektion, mit der wir zu tun haben. Grundsätzlich müssen alle Masken tragen, mehrmals täglich Hände desinfizieren und so weiter.

Und gibt es irgendeine Form staatlicher oder privater Unterstützung aufgrund der wirtschaftlichen Lage? Wie können die Betroffenen sonst überleben?

Das Problem ist: Die Regierung hat selbst kein Geld. Deshalb ist eine Unterstützung der Menschen, die durch die Pandemie ihre Arbeit und ihre Einkünfte verloren haben, gar nicht möglich – anders als in Deutschland. Einzelne Betroffene bekommen Hilfe von Kirchen, hier und da gibt es humanitäre Hilfe. Aber das reicht nicht annähernd.

Also bleibt nur die Unterstützung durch die Großfamilien, also durch Verwandte?

Richtig. Aber da sehr viele Menschen betroffen sind, sind die Mittel der Familien natürlich auch begrenzt. Es gibt nur ganz  wenige Leute, denen es derzeit finanziell nicht schlecht geht.

Weihnachten in der Zeit der Pandemie, Weihnachten in Bethlehem – wie kann das dieses Jahr gestaltet werden?

Fast alle Gottesdienste finden aufgrund der Pandemie digital statt – auch in der Weihnachtskirche wird es an den Feiertagen Online-Gottesdienste geben. Da wir derzeit keine Ausgangssperre haben, ist es den Menschen grundsätzlich möglich, sich zu Gottesdiensten in den Kirchen zu versammeln. Es gibt momentan auch keine Beschränkungen, was die Zahl der Teilnehmenden betrifft. Aber viele Gemeindemitglieder ziehen es vor, zuhause zu bleiben und lieber online am Gottesdienst teilzunehmen. Ich vermute, es werden 20 Leute kommen am Heiligen Abend. Vielleicht aber auch mehr, wir wissen noch nicht, wie die Lage genau sein wird.

Natürlich gibt es in Bethlehem sonst große Events, was Weihnachten angeht. Die Beleuchtung vom Baum vor der Geburtskirche ist immer eine große Aktion: Das wird in diesem Jahr per Video aufgezeichnet und live gestreamt. Der Zug des Patriarchen wird dagegen wohl stattfinden, aber mit besonderen Auflagen: je nachdem, wie die Pandemie sich entwickelt.

Und was sind Ihre Pläne?

Wir planen an der Hochschule eine kleine Feier zu machen – draußen, wo die Ansteckungsgefahr sehr gering ist. Wir haben einen Tannenbaum vor dem Eingang, den werden wir gemeinsam mit den Student*innen mit Kerzen und Lichtern versehen. Ich werde auch eine digitale Weihnachtsbotschaft raussenden, per Video. Ach ja, unsere Musiklehrer experimentieren derzeit tüchtig mit Weihnachtsliedern: Sie wollen westliche Musikstücke mit orientalischen Instrumenten einspielen. Und das werden sie per Video aufzeichnen und online veröffentlichen. Darauf freue ich mich schon sehr.

Mitri Raheb war im Lockdown produktiv. „Ich habe die Zeit genutzt, um einige Bücher zu schreiben und herauszugeben“, sagt er. In einem Buch geht es um die historisch-kulturelle Bedeutung der Stadt Bethlehem, das zweite ist eine Autobiographie von Tawfiq Canaan, das dritte widmet sich dem Thema „Die Politik der Christenverfolgung“ und schließlich hat er ein Nachschlagewerk zum Thema: „Christ*innen im Nahen Osten“ herausgegeben – mit Beiträgen von 50 Professor*innen aus der ganzen Welt.