Alles begann mit einer mühsamen Sanierung der Krypta der Weihnachtskirche: Mitri Raheb gründete als junger Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche (ELCJHL) in Bethlehem ein kleines Gästehaus und ein Tourismusprogramm. Daraus entwickelte sich im Lauf der vergangenen 25 Jahre das große Kultur-und Begegnungszentrum Diyar, dessen Projekte und Angebote die Region Bethlehem maßgeblich prägen. Auch die Hochschule Dar al-Kalima ging daraus hervor: Heute kommen junge Menschen aus der ganzen Westbank für ein Studium dorthin, außerdem hat das College eine Dependance in Gaza und Programme in Beirut, Jordanien und Ägypten. Pfarrer Mitri Raheb ist Präsident der Hochschule. Silke Nora Kehl hat ihn anlässlich des Jubiläums befragt.
Herr Raheb, vor 25 Jahren haben Sie das internationale Begegnungszentrum Dar-Annadwa gegründet, aus dem später unter anderem das Dar al-Kalima-College hervorging. Sie waren damals Pfarrer in Bethlehem – und erst Anfang 20. Was hat Sie damals bewegt?
Mitri Raheb: Im Mai 1987 hatte ich gerade meine Promotion abgegeben, an der Uni in Marburg, und kam als erster in Deutschland promovierter Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche zurück nach Bethlehem. Ich dachte, nun hätte ich auf alles eine Antwort – aber sieben Monate nach meiner Rückkehr begann die Erste Intifada. Da hatten die Menschen Probleme und Fragen, für die ich keine Lösungen wusste. Außerdem haben die Auseinandersetzungen während der Intifada damals direkt um die Kirche herum stattgefunden – dort lebte ich als Pfarrer ja auch. Auf so eine Situation war ich nicht vorbereitet. Ich musste mir erst einmal Zeit nehmen, um genau hinzuhorchen: Was sind die Fragen der Menschen, was beschäftigt sie, was brauchen sie?
Und womit begann dann die Gründung des Zentrums?
Als erstes haben wir ein Programm für internationalen Tourismus gegründet und 1992 ein kleines Gästehaus eröffnet: Das war immer noch während der ersten Intifada. Viele Menschen haben gesagt: „Ihr seid verrückt! Wer soll denn kommen, wenn hier alles brennt und kracht?“ Aber mir war wichtig, dass wir ein Angebot schaffen für Besucher*innen, die interessiert sind am politischen Geschehen, an der sozialen Entwicklung und an den Menschen hier – nicht nur an den Steinen im Heiligen Land. Und das hat sich gut bewährt.
1995 haben wir dann das internationale Begegnungszentrum Dar-Annadwa eröffnet, in der Krypta der Kirche. Diese Räume hatten zuvor wir mit großem Aufwand renoviert: Insgesamt 54 Lastwagenladungen Schutt und Müll haben wir daraus entfernt, dabei haben palästinensische und deutsche Jugendliche geholfen. Denn nach Unterzeichnung des Osloer Abkommens 1993 konnten wir internationale Jugendbegegnungen und Austauschprogramme realisieren. Bei der Renovierung haben wir darauf geachtet, das palästinensische Kulturerbe – was die Architektur betrifft – zu erhalten und zur Geltung zu bringen, kombiniert mit modernem Design.
Was war Ihre Motivation? Und welchen Hindernissen und Herausforderungen sind Sie begegnet?
Als junger Pfarrer war ich davon überzeugt, dass Kirche in die Gesellschaft hineinwirken muss. Die Kirchenleitung sah das damals anders: Ein Pfarrer solle sich nur um seine Gemeinde und die Gottesdienste kümmern. Aber ich denke bis heute: Wir dürfen uns nicht hinter den Gemäuern der Kirche verschanzen! Sondern Kirche kann nur Kirche sein, wenn wir soziales Leben aktiv mitgestalten. Das hat sich mittlerweile auch bewährt. Doch es war damals durchaus eine Herausforderung, dies der Kirchenleitung gegenüber zu vertreten.
Ein weiterer Punkt war: Mit kontextueller Theologie waren die Leute hier nicht vertraut, sie fanden diesen Ansatz befremdlich. Mir hat sich dieser kontextuelle Zugang zur Theologie auch erst während der Intifada erschlossen – seitdem ist er für mich nicht mehr wegzudenken. Heute sieht auch die Bethlehemer Gemeinde dies so.
Eine dritte Herausforderung war natürlich: Als evangelische Gemeinde gehören wir zu einer der kleinsten Kirchen in Bethlehem und in Palästina. Die katholischen oder orthodoxen Gemeinden sind sowohl historisch gesehen als auch von den Mitgliederzahlen her gewichtiger, daher hat man uns nie ernst genommen. Und plötzlich haben wir als kleine Gemeinde eine Arbeit begonnen, die rasch gewachsen ist und im Raum Bethlehem eine größere Bedeutung gewonnen hat als die Arbeit anderer Kirchen. Das hat anfangs für etwas Neid gesorgt. Heute haben wir die Achtung der anderen Kirchen. Das gilt übrigens auch für die Behörden der Stadt Bethlehem. Bei der Milleniums-Feier „2000 Jahre Bethlehem“ waren wir als lutherische Gemeinde maßgeblich beteiligt: Wir gehörten mit zu den Entscheidungsträger*innen im Planungsstab der Stadtverwaltung. Wir haben also mittlerweile ein ganz anderes Standing als früher.
Wie und wann ist später die Hochschule Dar al-Kalima entstanden?
Im Dar-Annadwa-Zentrum haben wir 1995 mit fünf Mitarbeiter*innen begonnen. Women Studies, Internationale Beziehungen und Erwachsenenbildung, Glauben und Entwicklung, alternativer Tourismus sowie deutsch-palästinensische Austauschprogramme – das waren unsere fünf Abteilungen. Im Jahr 1997 erweiterten wir unser Programm. Wir gingen eine Partnerschaft mit dem Edward Said National Music Konservatorium ein und eröffneten damit die erste Musikschule in unserer Region. 1998 kam das Kunstprogramm hinzu: Wir boten jungen Menschen eine Ausbildung in Keramik, Glasverschmelzung und Malerei an.
2006 eröffneten wir schließlich das Dar al-Kalima-College, das offiziell durch das palästinensische Ministerium für Bildung und Hochschulbildung akkreditiert wurde. Auf dem Weg dorthin gab es weitere wichtige Gründungen, Programme und Projekte – etwas das Bethlehem Media Center und das Dar al-Kalima Gesundheitszentrum. Finanziert vom finnischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten entstand der Bau unseres großen Kultur-und Konferenzzentrums.
Welche Studiengänge bietet das College heute an?
In vier Bereichen – Visuelle Künste, Darstellende Künste, Tourismus und Sport – bieten wir unterschiedliche BA- und Aufbaustudiengänge an. Dazu zählen Filmproduktion, moderne Kunst, Theater, Musik, Innenarchitektur, Glas und Keramik, , Grafik-Design, Product- und Mode-Design, Kunstpädagogik und Fotografie. Die Studiengänge „Schmuckdesign“, „Kochen und Catering“ sowie „Reiseleitung“ sind sehr praxisorientiert.
Woher kommen Ihre Student*innen?
Unsere Student*innen kommen aus der gesamten Westbank. Etwa 80 Prozent sind muslimisch, 20 Prozent sind christlich. Außerdem haben wir 58 Studierende, die im Gaza-Streifen leben, in diesem Jahr sind noch 21 neue Online-Student*innen dazu gekommen. Wir haben in Gaza auch einen fest angestellten Lehrer*innenstab und eine Programmkoordinatorin aus Bethlehem, die normalerweise einmal im Monat dorthin fährt. Leider ist dies seit März wegen der Pandemie nicht mehr möglich. Ende Oktober konnten wir jedoch ein neues Trainings-Center in Gaza eröffnen: mit Angestellten und mehreren Professoren, damit wir künftig noch mehr Studierende aufnehmen und vor Ort betreuen können.
Aber wir arbeiten nicht nur in Palästina, sondern auch in unseren Nachbarländern: Wir haben Programme im Libanon, in Jordanien und Ägypten. Aktuell haben wir ein großes Projekt in Beirut, infolge der verheerenden Explosion dort. Wir bieten Sozialarbeiter*innen eine Fortbildung im Bereich Kunsttherapie an, aber wir arbeiten auch mit jungen Künstler*innen, um einige der zerstörten Ateliers in der Altstadt wieder aufzubauen und mit Leben zu füllen. Wir haben zwei festangestellte Mitarbeiterinnen in Beirut. Außerdem kooperieren wir mit Hochschulen im europäischen Ausland. Also unsere Arbeit ist immens gewachsen: Das hätte vor 25 Jahren niemand gedacht.
Es ist beeindruckend, was Sie erreicht haben. Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind? Was macht Ihnen mit Blick auf Ihre Arbeit am meisten Freude?
Am wichtigsten ist mir, dass wir den Menschen dienen: den Student*innen und auch den Kindern und älteren Leuten aus Bethlehem, die in unsere Programme involviert sind. Wenn ich sehe, welchen Unterschied unsere Arbeit für ihr Leben macht – dass sie dadurch ihre Kreativität entdecken und sich entfalten können –, freut mich das sehr. Auch dass viele unserer Absolvent*innen mittlerweile in den wichtigsten Kunstgalerien in Palästina ausstellen und dass viele unserer Mitarbeiter*innen, die ganz klein angefangen haben, heute promoviert sind, sich einen Namen gemacht haben – all das erfüllt mich ebenfalls mit großer Freude. Natürlich ist auch schön, dass wir aufgrund infrastruktureller Förderung so etwas Großes in Bethlehem haben aufbauen können. Aber am allerwichtigsten ist, was all die Menschen hier aus sich gemacht haben.
Im zweiten Teil des Interviews mit Mitri Raheb geht es um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie für die Stadt Bethlehem und die Frage, wie Weihnachten 2020 wohl aussehen mag.