In diesem Sommer hat Wolfgang Schmidt seinen Dienst als Propst an der Erlöserkirche in Jerusalem beendet. Er ist ab nun verantwortlich für die Bildungs- und Erziehungsarbeit in der badischen Landeskirche. Für uns hat er ein paar Zeilen verfasst über das, was er in Jerusalem bewegt hat – und was ihn bewegt.
Genau genommen sind es sieben Jahre und sieben Wochen. Das war meine Zeit, unsere Zeit, in Jerusalem. Und wo sonst als in Jerusalem möchte man anfangen, diese Zahlen zu deuten: möchte von einer heiligen Zahl sprechen, von einer heiligen Zeit. So ist Jerusalem. Alles bekommt einen Mehrwert durch die Religion. Zahlen, Ereignisse, die Geographie, Vergangenheit und Gegenwart – alles ist in dieser Stadt mit religiöser Bedeutung aufgeladen.
Ja, es waren sieben Jahre! Trotzdem will ich versuchen, halbwegs nüchtern auf unsere Zeit an der Erlöserkirche zurückzuschauen. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Besuch, den wir hier als Familie machten – Monate vor meinem Dienstantritt. Ich sehe mich noch auf der Hintertreppe des Gästehauses stehen und hinüberschauen: nach Osten zum Ölberg, nach Norden zur Erlöserkirche. Was für eine Perspektive! Hier darf ich arbeiten! Hier werden wir leben! Ich war überwältigt, empfand dies als ein unglaubliches, unverdientes Geschenk.
Und es war ein Geschenk! Eine großartiges Geschenk, aus dessen Fülle wir Monat für Monat geschöpft haben. Das Wichtigste waren (und sind) für uns wohl die Menschen, deren Wege sich mit den unseren kreuzten. An manchen Tagen kam ich zur Mittagszeit übervoll mit Erlebtem in die Wohnung, um mit meiner Frau Anette zu teilen, was der Vormittag mir beschert hatte: Begegnungen von Herz zu Herz, spannende Themen, anregende Diskussionen. Das konnten die Gespräche mit Reisegruppen sein, mit politischen Vertretern, mit kirchlichen Delegationen, mit MitarbeiterInnen oder einzelnen Besuchern. Das betraf die erfolgreiche Arbeit an Projekten oder anrührende Lebensgeschichten, denen ich mein Ohr leihen durfte.
Wir haben Weggemeinschaft geteilt mit vielen, die kamen und nach ein paar Jahren wieder gingen. Freundschaften sind entstanden. Nachbarn sind uns ans Herz gewachsen. An unserem Tisch saßen Juden und Muslime und Christen, Bischöfe und Volontärinnen, Fremde und Gemeindeglieder, Atheisten und Religiöse. Wir haben ein offenes Haus gepflegt – nicht nur privat, sondern in der ganzen Propstei. Das gilt gerade auch im Blick auf die anderen Kirchen, die unter dem Dach der Propstei zu Hause sind. Die Beziehungen zur arabischen Schwesterkirche und ihren Pfarrern und MitarbeiterInnen waren in all den sieben Jahren geschwisterlich und freundschaftlich.
Überhaupt: die Propstei! Jahrelang verging kein Tag, an dem ich nicht mit Freuden auf die wunderbaren Gebäude blickte, die die Geschichte unserer Sorge und Pflege anvertraut hat. Der Kreuzgang mit seinen einzigartigen Proportionen, dessen Blumenpracht sich dem grünen Daumen meiner Frau verdankt, zog mich jahrelang stets neu in seinen Bann. Die friedliche Atmosphäre unter den BesucherInnen des Cafés strahlte in ihrer Ruhe auf mich aus.
Das Erleben wurde erst später getrübt. Es begann mit dem Sterben unserer prächtigen Palme, die unter einem Wurmbefall vor unseren Augen innerhalb von Tagen verfiel. Und nun geht es weiter mit umfangreichen Restaurierungsmaßnahmen im Kreuzgang, die in diesem und im nächsten Jahr den Frieden stören und unglaubliche Mengen an Staub und Lärm hervorbringen. Ähnliches gilt für die Kirche. Die vorsorglichen Eingriffe an den Innenwänden wirken manchmal wie Wunden auf mich, die mich bei jedem Anblick schmerzen.
Das sind die Erfahrungen, die ich nun auch gern hinter mir lasse. Ebenso wie die Touristenmassen, die sich seit einigen Jahren vermehrt in die Altstadt hinein ergießen und die engen Fußgängerstraßen verstopfen. Und den Lärm von der Straße, der kaum einmal abebbt, sowie den allgegenwärtigen Abfall – denn der Müll, insbesondere vor dem Haus und um die Kirche herum, wird mir manchmal fast zu einer persönlichen Beleidigung.
Und natürlich die Politik! Die Verhärtung der Positionen ist ein Trauerspiel. Das Leben und Arbeiten in Jerusalem war und ist ein großes Geschenk, aber auch eine große Herausforderung. Es bedeutet: Die Besatzung erleben und nicht bitter werden, die völkerrechtliche Position Ostjerusalems achten und zugleich mit der israelischen Stadtverwaltung zusammenarbeiten, Menschen gegenüber höflich bleiben, die uns auf ihren Websites und anderswo böse verleumden. Die Verantwortung für die Arbeit von „Evangelisch in Jerusalem“ ist vor Ort eine ständige Gratwanderung, die über die Jahre an den Kräften zehrt. Die politischen Entwicklungen haben den Glanz getrübt, der für uns vor sieben Jahren noch weithin uneingeschränkt über Jerusalem lag.