Ist ein friedliches Zusammenleben in Israel und Palästina möglich? Rückblick auf das Jahresfest

26.02.2024 | „Ertragt einander in Liebe“ lautete das Motto des 171. Jahresfestes in Anlehnung an das Motto des Weltgebetstages 2024 zu Palästina.

Der Saal des Kaiserin-Friedrich-Hauses war zum Jahresfest des Jerusalemsvereins am 11. Februar 2024 bis auf den letzten Platz gefüllt. Schulleiter Matthias Wolf, dessen Dienstzeit im Mai 2024 endet, bilanzierte sechs bewegte Jahre in Talitha Kumi. Bischof Sani Ibrahim Azar erinnerte an die Anfänge des Jerusalemsvereins vor 171 Jahren und seine Mission im Heiligen Land. Er betonte, dass solche „Liebesarbeit“ auch heute notwendig ist. Reem al-Hajajreh (Women of the Sun), Sally Azar (ELCJHL), Regula Alon, Hyam Tannous (Women Wage Peace) sprachen mit Moderator Andreas Malessa über die Perspektiven der Friedensarbeit im Heiligen Land.

Podiumsdiskussion mit Frauen aus Israel und Palästina: Ist Frieden möglich?

„Ertragt einander in Liebe“ – ist dies in Israel und Palästina noch möglich? Dieser Frage gingen vier Frauen auf dem Podium nach. Reem al-Hajajreh berichtete über die Arbeit der palästinensischen Friedensinitiative „Women of the Sun“, die in Jerusalem, Gaza und der Westbank aktiv ist. Ziel der Organisation ist es, ein Bewusstsein für die sozialen Nöte von Frauen zu schaffen und sie durch Bildungsarbeit zu befähigen, sich in die Gesellschaft einzubringen und etwas zu verändern. Am Anfang des Engagements von Reem al-Hajajreh stand die Frage, wie sie ihren damals 15-jährigen Sohn schützen kann, der mit seiner Familie im Flüchtlingslager Dheisheh bei Bethlehem lebt.


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Die Sorge um die Zukunft der Kinder brachte die muslimische Palästinenserin und ihre Organisation auch mit den israelischen Frauen von „Women Wage Peace“ zusammen. Mit einem gemeinsamen Appell, dem „Mother’s Call“, wollen sie weltweit vier Millionen Mütter dazu bewegen, mit ihrer Unterschrift einem Pakt zum Schutz der Kinder beizutreten. „Wir wollen, dass unsere Kinder leben und nicht zu unseren Lebzeiten begraben werden“, sagt Hyam Tannous, die bei „Women Wage Peace“ mitarbeitet. Tannous stellt sich als arabisch-christliche Israelin vor. Zur Friedensarbeit habe sie eine Stelle in der Bibel gebracht, in der es heißt „Selig sind, die Frieden stiften“ (Mt 5,9). Sie glaubt, dass gerade arabische Israelis wie sie eine Brücke zwischen der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft bauen können. Deshalb setzt sie sich gemeinsam mit 50.000 israelischen Frauen, Jüdinnen und Araberinnen, für den Frieden ein.

Regula Alon ist eine von ihnen. Sie betont, dass ihr und „Women Wage Peace“ auch der Frieden innerhalb der israelischen Gesellschaft wichtig seien: „Wir haben das Ziel der Gleichheit für alle Staatsbürger in Israel. Wir haben das Ziel, dass es Frieden und eine Zukunft für uns gibt, vor allem für unsere Kinder und auch für unsere Enkel.“ Alon ist überzeugt, dass die Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen gerade nach dem 7. Oktober 2023 von Bedeutung ist: „Es ist wichtiger denn je, dass wir zusammenarbeiten. Ja, wir müssen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten, wo es so viel Hass gibt, so viel Angst … gerade da ist unsere Kooperation und unser gegenseitiges Empfinden, die Empathie, das Verständnis, dass die andere Seite genauso leidet [wichtig]. Wir sehen momentan nur unser eigenes Leid … Und wenn wir einen Dialog führen, sehen wir auch die andere Seite. Und das ist wichtig. Das ist wichtig heute, und das wird nach dem Krieg noch viel wichtiger sein.“

Shibli Band
Die Shibli Band begleitete den Festnachmittag musikalisch.

Die vierte Frau auf dem Podium, Pfarrerin Sally Azar (ELCJHL), fragte Moderator Andreas Malessa mit Blick auf das Motto „Ertragt einander in Liebe“, was sie als palästinensische Pfarrerin von Pilgern und Touristinnen im Heiligen Land erwarte. Azar bedauerte, dass die meisten von ihnen nur Israel, nicht aber die Westbank bereisten und betonte, dass die Kirchen in der Westbank immer Raum für Begegnungen bieten könnten. Darüber hinaus wünschte sie sich, dass die Reisenden auch Menschen außerhalb der Kirchen begegnen und in den palästinensischen Alltag eintauchen.

Bischof Azar: „Das Land ist groß genug für uns alle“

Bischof Sani Ibrahim Azar erinnerte in seinem Vortrag an die Anfänge des Jerusalemsvereins vor 171 Jahren und seine Mission im Heiligen Land. Er betonte, dass die Arbeit dort aus Liebe zu den Menschen begonnen und mit Gemeinden, Schulen, Internaten und Krankenhäusern Strukturen geschaffen habe, die bis heute bestehen. „Als Ergebnis dieser Liebesarbeit ist die Evangelisch-lutherische Kirche in Jordanien und im Heiligen Land entstanden.“ Neue Arbeitszweige seien in den Bereichen Umwelt und Diakonie sowie Frauen- und Jugendarbeit hinzugekommen.


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Die ELCJHL spüre, dass diese Arbeit von Gott gesegnet sei, andererseits gebe es viele Unsicherheiten über die Zukunft. Die christlichen Palästinenser spürten einen Druck zur Migration. „Wir spüren, dass wir als Christen und Palästinenser in unserem eigenen Land nicht mehr willkommen sind.“ Azar träumt davon, dass nicht nur palästinensische Christinnen und Christen im Heiligen Land bleiben, sondern auch Palästinenser, die in der Ferne leben, zurückkehren. Die Kirchen spielten eine wichtige Rolle bei der Schaffung eines Umfelds, das die Christen ermutige, im Land zu bleiben oder zurückzukehren: durch Bildung, Seelsorge und praktische Hilfe im Alltag, besonders jetzt in Kriegszeiten, wo das Gefühl der Isolation stark sei.

Eine Zeit lang hätten die christlichen Palästinenser das Gefühl gehabt, ganz allein zu sein, um dann wieder viel Unterstützung von den internationalen Partnern zu erfahren. Azar richtete den Blick auf die leidende Zivilbevölkerung in Gaza, besonders auf die Kinder, vor allem die Waisenkinder, und fragte sich, ob dort nicht wieder eine Arbeit wie in den Anfängen des Jerusalemsvereins notwendig sei.

Als Zukunftsvision und Gebetsanliegen nannte Azar ein Miteinander von Israelis und Palästinensern: „Ich möchte keine Trennung haben. Ich möchte gemeinsam in Israel und Palästina leben, als Juden und Palästinenser. Das Land ist groß genug für uns alle … Wir brauchen viel Gebet dafür, dass endlich die Augen aufgetan werden nach diesem Krieg.“

Schulleiter Matthias Wolf blickt auf sechs Jahre in Talitha Kumi zurück

Nach dem Schuljahr 2023/24 endet die Dienstzeit des Schulleiters von Talitha Kumi, Matthias Wolf. Auf dem Jahresfest bilanzierte er sechs bewegte Jahre in Talitha Kumi.


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Der Blick von der auf einem Berg gelegenen Schule ins weite Land habe ihm immer gut getan, sagte Matthias Wolf beim Jahresfest des Jerusalemsvereins, gerade weil vieles in der Umgebung den Blick verengen wolle: Streit, Unfrieden, Hass und Neid. Talita Kumi sei dagegen so etwas wie eine Oase, ein Fels in der Brandung.

Rückblickend ist sich Wolf nicht sicher, ob er nach Talitha Kumi gekommen wäre, wenn er gewusst hätte, was ihn erwartet. Doch seine Bilanz zeigt, dass sich sein Einsatz und sein Durchhaltevermögen gelohnt haben: zum Beispiel während der Corona-Pandemie, die Talitha Kumi mit viel Pragmatismus gut überstanden hat. In dieser Zeit habe er bewundert, wie die Palästinenserinnen und Palästinenser mit Krisen umgehen können. „Die Resilienz dieser Menschen ist schier unfassbar, das habe ich nirgendswo anders gesehen.“

Schulleiter Matthias Wolf, dessen Dienstzeit im Mai 2024 endet, bilanzierte sechs bewegte Jahre in Talitha Kumi.
Matthias Wolf, Schulleiter von Talitha Kumi

Einen langen Atem bewies Wolf auch bei der Umsetzung umfangreicher Baumaßnahmen auf dem Talitha-Campus: Die Zufahrtsstraßen auf dem Gelände wurden verbessert, die Solaranlage ausgebaut – sie erzeugt nun den gesamten Strom -, neue Klassenräume und eine Cafeteria errichtet. Im neuen großen Auditorium sollen Feste und Feiern, aber auch Konzerte und Diskussionen stattfinden. „Solche Gesprächsräume wird es brauchen, wenn der Krieg vorbei ist und man wieder ganz neu zusammenwachsen muss“, betont Wolf. Dankbar erwähnt er die großzügige Unterstützung des Auswärtigen Amtes bei den Baumaßnahmen.

Auch die Verbindung zu Partnern vor Ort ist dem Schulleiter immer wichtig gewesen: zur Stadtverwaltung und dem Bürgermeister von Beit Jala, zu den Kirchen und dem Bischof sowie dem Schulrat der ELCJHL, zur Deutschen Vertretung in Ramallah und dem Kulturattaché. „Wir sind eine deutsche Auslandsschule in Palästina, unserem Gastland, da ist es wichtig und gut mit den Menschen vor Ort zusammenzuarbeiten.“