Predigt von Sally Azar auf dem Jahresfest 2024

17.02.2024 | Sally Azar, Pfarrerin der ELCJHL, hat auf dem 171. Jahresfest des Jerusalemsvereins am 11. Februar 2024 in der Französischen Friedrichstadtkirche über 1. Kor 13 gepredigt.

Liebe Geschwister in Christus,

heute hören wir nicht nur die Worte des Apostels Paulus im 1.Korintherbrief, sondern wir begegnen auch der Herausforderung, diese Worte aus ihrer ritualisierten Gefangenschaft zu befreien und mit frischem Blick zu betrachten. Oft verbinden wir diese Worte mit Hochzeiten, weißen Kleidern und festlicher Atmosphäre. Doch diese erstaunliche Botschaft über die Natur und Praxis christlicher Liebe benötigt keine menschlichen Stützen, um kraftvoll in vielen Situationen im Leben der Gemeinde zu sprechen.

Heute, an diesem letzten Sonntag vor der Passionszeit, rufen uns die Worte der Bibel dazu auf, unsere Herzen für die Liebe und die Einheit zu öffnen. In 1. Korinther 13,1-13 erfahren wir von der kraftvollen Bedeutung der Liebe – einer Liebe, die geduldig, gütig und nicht neidisch ist. Eine Liebe, die nicht prahlt und nicht auf sich selbst bedacht ist. Diese Liebe kennt keine Grenzen. Denn die Liebe, von der in 1. Kor 13 die Rede ist (griechisch: ἀγᾶπη), ist die göttliche, schöpferische Liebe, die ihre Erfüllung erst in ihrem Gegenüber, in ihrem Geliebten findet.

Wie schön das klingt! Paulus spricht viel über die Liebe, und es scheint ein einfaches Wort zu sein, Liebe, jedoch ist es schon etwas Besonderes.

Auch im Epheserbrief ist von der Liebe die Rede. Dort werden wir aufgefordert: „Ertragt einander in liebe!“. Wenn es nur so einfach wäre. Leichter gesagt als getan. „Ertragt einander in Liebe“ ist nicht nur der Predigttext, sondern auch das Thema des Jahresfests des Jerusalemsvereins – und das diesjährige Motto des Weltgebetstags.

Diese Worte werden mit Leben gefüllt, wenn wir uns daran erinnern, dass sie aus einer pastoralen Krise in der Korinthischen Gemeinde entsprungen sind. Die Korinther missbrauchen ihre Freiheit, teilen nicht, verachten die geistlichen Gaben ihrer Nächsten, rühmen sich ihrer eigenen Gaben und streben nach Anerkennung in der Gemeinde. Das Problem liegt nicht im Mangel an geistlichen Gaben, sondern in der Art und Weise, wie diese Gaben ausgeübt werden. Jeder Pfarrer, jede Pfarrerin weiß, dass diese Konflikte heute immer noch, genauso wie schon zur Zeit des Paulus ausgetragen werden – und wohl auch ausgetragen werden müssen!

Einander in Liebe zu ertragen: Ich möchte euch gerne einen Einblick in das Leben unserer Jugendlichen geben und euch erzählen, wie oft sie mich sprachlos machen.

Am Anfang des Krieges, traf ich mich mit meinen Jugendlichen. Eine der Jugendlichen trat mit der Überzeugung an mich heran, das Ende der Welt sei nahe. Ich war ein bisschen verwirrt und fragte: „Wie kommst du darauf?“ Darauf erwiderte sie: „Ja, mit all dem was passiert, muss es doch so sein – so steht es auch in der Bibel!“ Da wollte sie von mir wissen, ob es wirklich so ist.

Ich musste ihr schlicht sagen, dass ich es nicht weiß. Da sagte sie: „Gott muss doch diese Katastrophen in der Welt sehen und sich einmischen, oder etwa nicht?“ Ich glaube, diese Fragen beschäftigen uns doch alle.

Dann kam eine andere Jugendliche auf mich zu und fragte: „Haben wir etwas falsch gemacht, dass wir so bestraft werden?“ Ich fragte sie: „Habt ihr Angst?“ Da meinten sie: „Nein, wir sind es ja gewöhnt, aber wir wollen uns einfach auch wieder mit unseren Freunden treffen können und unser Leben weiterleben.“

Die richtige Antwort zu all dem ist nach Paulus das, was er auch den Korinthern gesagt hat: „Übt Liebe aus!“ Liebe ist keine weitere geistliche Gabe, sondern die Art und Weise, wie Gott will, dass wir all unsere Gaben praktizieren. Paulus spricht über die Vorrangigkeit der Liebe, den Charakter der Liebe und die Ausdauer der Liebe.

In jeder Gemeinde und in jedem menschlichen Leben existieren ausgesprochene und unausgesprochene Annahmen darüber, was am wichtigsten ist. Die Kirche ist voller vielfältiger theologischer Standpunkte, Programme, Kleingruppen, Organisationen, Missionen und spezialisierter Dienste. In der Regel haben diese Diversitäten Platz in der Kirche. Doch wenn Ressourcen knapp werden, können Spannungen entstehen und unausgesprochene Annahmen werden manchmal auf schmerzhafte und spaltende Weise ausgedrückt. Soziale und kulturelle Anliegen drängen auf die Kirche und verleiten einige dazu, auf ihrem eigenen Weg zu beharren. In solchen Momenten scheinen Christen eine besondere Fähigkeit zu haben, Selbstinteresse mit Selbstgerechtigkeit zu verdecken.

Jedoch fühlt sich all das gerade nicht so an, es gab überhaupt keinen Platz dafür in den letzten Monaten. Mit all dem, was wir in Jerusalem und in der Westbank erleben, haben wir das Gefühl, so wie der Jugendliche es äußerte: „Was haben wir falsch gemacht?“

Die Worte über die Vorrangigkeit der Liebe können der Kirche in Konflikten helfen zu verstehen, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als richtig oder mächtig oder geehrt zu sein. Wenn diejenigen in der Kirche nicht in Liebe handeln, dann führen alle religiösen Gespräche, das Wissen, die Frömmigkeit und das opfernde Geben zu nichts. Ohne Liebe sind Christen wie das Salz, von dem Jesus sagte, es habe seinen Geschmack verloren und sei nur noch dazu gut, „hinausgeworfen und von den Menschen zertreten zu werden“ (Matthäus 5,13). Diejenigen, die glauben, alles gewonnen zu haben, indem sie auf Prinzipien beharren, andere dominieren oder im Recht sind, haben alles verloren.

Paulus spricht auch über den Charakter der Liebe. Christen werden täglich mit unzähligen und oft widersprüchlichen Bildern und Ideen von Liebe konfrontiert. Da kommen mir die vielen Herausforderungen die wir als Christen gerade jeden Tag besonders in Jerusalem erleben in den Sinn.

Vielleicht ist es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass Paulus von Agape spricht, der Liebe, die am deutlichsten in Gottes Liebe zu den Menschen im Leben, Tod und der Auferstehung Jesu Christi verkörpert ist. Diese Liebe ist in erster Linie keine Emotion, sondern eine Handlung. Sie sucht nicht das eigene Wohl, sondern das Wohl dessen, der geliebt wird. Paulus definiert diese Liebe in einer Reihe von Worten, die beschreiben, was Liebe ist und was Liebe nicht ist. Sowohl die negativen als auch die positiven Beschreibungen von Agape überführen diejenigen, die hören können, ihres Mangels an Liebe, ihres Missverständnisses von Liebe und ihrer Verdorbenheit von Liebe. Paulus´ Beschreibung des Charakters der Liebe weckt Gläubige für die Transformation und Erneuerung der Liebe im Leib Christi.

Im Lichte von Paulus´ überzeugender Beschreibung der Liebe wäre es hilfreich zu erforschen, wie die Kirche ihren Dienst der Seelsorge, ihre Mission in der Gemeinschaft und ihre organisatorische Führung ausführt. In der Seelsorge werden Pastoren, Amtsträger und Mitglieder leicht reizbar und ungeduldig, wenn diejenigen, die betreut werden, sich nicht verändern oder den Erwartungen des „Pflegenden“ entsprechen. Wohlwollende, aber fehlgeleitete Menschen denken oft, sie wüssten am besten, was für andere das Beste ist, und werden frustriert, wenn andere nicht sofort auf ihre Vorschläge und Pläne reagieren.

Engagieren sich Gemeinden in der Evangelisation und weltweiten Mission, drücken sie ihre eigene Agenda denen auf, die sie ansprechen. Oder engagieren sie sich wirklich in einer respektvollen Partnerschaft, bei der sie gemeinsam auf die Führung des Geistes hören? Sind Amtsträger darauf geschult, Führung im Geist der Liebe auszuüben, die das Wohl aller sucht und sich freut, wenn das breiteste Verständnis der Wahrheit erreicht wird? Das Bild der Liebe, das Paulus der Kirche vor Augen stellt, hat nichts sentimentales. Eine solche Liebe ist aktiv, robust, widerstandsfähig und langmütig.

Paulus beendet seine pastoralen Worte über die Liebe mit einem Bild von der Ausdauer der Liebe. Jede geistliche Gabe wird enden. Alle Denkmäler, die Menschen schaffen, werden vergehen. Selbst das menschliche Leben wird enden. In diesem Leben erhalten Menschen die Gelegenheit, in der Liebe zu wachsen, von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter und von der Unreife zur vollen geistlichen Reife. Es liegt eine schöne Ironie darin, dass das Einzige, was für immer bleibt, die Liebe ist, die verschenkt wird. Obwohl kein Mensch alle seine Erfahrungen in dieser Welt vollständig verstehen kann oder klar erkennen kann, was jenseits dieser Welt liegt, kann jeder Mensch auf die Beständigkeit und Beharrlichkeit der göttlichen Liebe vertrauen, die im menschlichen Leben gelebt und erfahren wird. In Christus werden Gläubige durch die göttliche Liebe erkannt und erwählt.

In einer ängstlichen Welt, die nach dem Dauerhaften greift, wird das Ewige durch die Erfahrung der Liebe gegeben. Wenn die Kirche sich versammelt, um die Auferstehung zur Zeit des Todes zu feiern, haben Geistliche und Gemeinden Gelegenheit, die Wahrheit zu bezeugen, dass das Erbe, das am meisten zählt, die Liebe ist. Das gläubige Leben besteht darin, Zeugnis in Wort und Tat von der Vorrangigkeit der Liebe, dem Charakter der Liebe und der Ausdauer der Liebe abzulegen.