Berlin, 18. Oktober 2025
Bald keine Christen mehr im Heiligen Land?
Sehr geehrte Frau Abgeordnete, sehr geehrter Herr Abgeordneter,
wir alle sind erleichtert über die guten Nachrichten aus dem Nahen Osten, dass die Waffen schweigen und dass nach über zwei Jahren alle noch lebenden Geiseln wieder in Freiheit sind. Die Überführung aller toten Geiseln erhoffen wir, sowie dass der vereinbarte Waffenstillstand in einen nachhaltigen Friedensprozess und den Wiederaufbau des Gazastreifens mündet.
Bei allen hoffnungsvollen Zeichen blicken wir – der Jerusalemsverein – auf die besondere Situation der Christinnen und Christen in dieser Region. Seit 173 Jahren pflegt der Jerusalemsverein eine enge Partnerschaft mit der Evangelischen Kirche im Heiligen Land und ist ständig in Kontakt mit den christlichen Geschwistern vor Ort. Was wir hören, macht uns sehr besorgt.
Die zunehmend unerträgliche Lebenssituation, die auf den Menschen (und damit auch den Christinnen und Christen) im Westjordanland lastet, führte insbesondere in den letzten zwei Jahren zu einer massiven Auswanderung christlicher Familien. Auch aus den Kirchen in Jerusalem hören wir aktuell von Bedrängnissen, die uns große Sorge machen.
Der Jerusalemsverein ruft alle im Bundestag vertretenen Fraktionen auf, in ihren Bemühungen um eine Regelung des Konfliktes die in ihrem Überleben gefährdete Minderheit der einheimischen Christinnen und Christen nicht zu vergessen und ihren Einfluss zu nutzen, damit auch künftig christliches Leben im Westjordanland möglich bleibt.
Die Not ist groß. Zwei Jahre hintereinander Weihnachten in Bethlehem ohne Pilger. Und auch zum Osterfest ist kaum jemand nach Jerusalem gekommen. Der Krieg im Nahen Osten hat den Tourismus zum Erliegen gebracht. Die Menschen verzweifeln an den wirtschaftlichen Folgen – und an der Sorge um Verwandte in Gaza. Fast 90 neue Checkpoints allein in der Region Bethlehem haben die Bewegungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 80%. Die Folgen sind massive psychologische Probleme, deren ganzes Ausmaß erst nach dem Krieg sichtbar werden wird.
Immer mehr Menschen sehen nur in der Auswanderung einen Ausweg. Seit dem 7. Oktober 2023 haben bereits mehrere hundert Christen ihre Heimat verlassen. Der Aderlass der Gemeinden geht an die Existenz der Gemeinden aller Konfessionen. Wir befürchten: Bald wird es keine Christen mehr im Heiligen Land geben!
Palästina, Israel, Heiliges Land: Wie auch immer das Land bezeichnet wurde oder wird: Die Bevölkerung war seit Jahrtausenden multikulturell und multireligiös. Schon in biblischen Zeiten lebten eine Vielzahl von Völkern im Land.
Religiöse und ethnische Vielfalt kennzeichnet auch die heutige Zeit. Juden, Muslime, Christen und Drusen – sie alle sind seit langem im Heiligen Land ansässig und haben das gleiche Recht, in Freiheit und Sicherheit selbstbestimmt dort zu leben.
Als Jerusalemsverein unterstützen wir von unserem Auftrag her unsere christlichen Geschwister vor Ort, aber unsere Sorge gilt allen Menschen in der Region. Wir sehen: Die bestehende Vielfalt ist gefährdet. Die ganze Region kommt nicht zur Ruhe. Die jüdisch-israelische wie die palästinensische Gesellschaft sind stark traumatisiert. An Frieden ist nicht zu denken. Umso mehr ruft der Jerusalemsverein auf, für alle Menschen in der Region zu beten und sich für einen gerechten Frieden für alle Menschen einzusetzen.
Mit freundlichen Grüßen
Oberkirchenrat Wolfgang Schmidt
(Vorsitzender des Jerusalemsvereins)