„Die ganze Gesellschaft muss die Gleichberechtigung von Frauen und Männern mittragen“

Die Botschafterin Palästinas, Dr. Khouloud Daibes, spricht über alte und neue Geschlechterrollen und darüber, welchen Druck die politische Situation in der Westbank und im Gaza-Streifen auf Frauen und Familien ausübt. Sie wünscht sich für die Zukunft eine freie, demokratische Gesellschaft, in der mehr Frauen als bisher verantwortungsvolle Positionen übernehmen und Entscheidungen aktiv mitgestalten.

Frau Botschafterin Daibes, wenn wir über die Rolle von Frauen in der palästinensischen Gesellschaft sprechen: Wie würden sie diese beschreiben?

Dr. Khouloud Daibes: Es ist schon ein großer Unterschied, ob wir über palästinensische Frauen in Gaza, in der Westbank oder in Ost-Jerusalem sprechen – oder über palästinensische Frauen in Israel. Denn die jeweiligen Lebensumstände und politischen Rahmenbedingungen sind ganz unterschiedliche. Auch spielt es eine Rolle, ob die Frauen in einem Flüchtlingslager leben, etwa im Libanon, in Syrien oder Jordanien. Insgesamt betrachtet gibt es trotzdem eine positive Entwicklung. Denn die palästinensische Gesellschaft hat sich in Richtung Gleichberechtigung bewegt: Frauen arbeiten inzwischen als Richterinnen, Ärztinnen oder Polizistinnen. Wir haben weibliche Profi-Fußball-Teams und Rennfahrerinnen. Es gibt durchaus den politischen Willen, dass Frauen die Gesellschaft mitgestalten, indem sie verantwortungsvolle Ämter besetzen. Im palästinensischen Legislativrat (Parlament) gibt es eine Frauenquote, die mit Blick auf die anstehenden Wahlen im Mai 2021 von 15 auf 23 Prozent angehoben wurde. Ziel ist es, dass sich mehr palästinensische Frauen an der politischen Verantwortung beteiligen. Trotzdem sind Frauen auf allen Ebenen immer noch unterbesetzt.

Woran liegt das Ihres Erachtens?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist die langjährige israelische Besatzung, die zu einer Doppelbelastung für die palästinensischen Frauen geführt hat. Die Menschen im Gaza-Streifen mussten mehrere Kriege erleiden. Stellen Sie sich vor, was das für die Frauen dort bedeutet –für Mütter, die sich um ihre Männer und ihre Kinder ständig sorgen. Die Angst ist groß, ob die Kinder sicher aus der Schule nach Hause kommen. Durch Kriege und Unruhen sind die Kinder schwer traumatisiert und die erlittene militärische Gewalt entlädt sich mitunter auch in häuslicher Gewalt. Unter diesem ständigen Druck fehlt oftmals die Energie, sich um höhere berufliche Positionen zu bemühen. Und ich sehe hier ein weiteres Problem: Das Leben im Gaza-Streifen ist von großer Armut geprägt und ohne Perspektive auf eine Arbeit oder Veränderung bestimmt. Ist es da verwunderlich, dass die Menschen offen für die Gedanken konservativer Kräfte sind? Je länger wir in dieser engmaschigen Situation leben, desto weniger Toleranz wird es geben – das heißt, selbst offen zu sein, etwa Frauen zu akzeptieren und sich für eine pluralistische Gesellschaft stark zu machen. Auch in der Westbank sind wir in unserem Leben durch die israelische Besatzung stark eingeschränkt. Es ist unerheblich, ob wir über das Thema Empowerment von Frauen in Palästina oder ein anderes Thema sprechen. Es vom politischen Kontext zu trennen, ist kaum möglich. Zur Realität vor Ort gehört auch die schwierige wirtschaftliche Lage

Welche Gründe gibt es noch?

Mit Gleichberechtigung ist auch viel Verantwortung verbunden. Und ein Teil des Problems ist: Die Frauen müssen es selbst wagen, höhere Positionen zu übernehmen. Es fehlt palästinensischen Frauen nicht an Bildung. Unter ihnen sind viele, die eine gute schulische oder auch universitäre Ausbildung vorweisen können. Sie bringen dieselben Qualifikationen mit wie Männer. Allerdings muss auch die gesellschaftliche Infrastruktur vorhanden sein, die Frauen den beruflichen Aufstieg ermöglicht. Parallel zum Beruf führen Frauen doch auch ein Familienleben mit zumeist mehreren Kindern. Es sind Großfamilien, so dass die Unterstützung der Familie grundsätzlich gegeben ist. Aber ihre Karriere können Frauen nur dann verfolgen, wenn der Partner bereit ist, sich auch um die Kinder zu kümmern. Wir Frauen müssen also uns selbst, unsere Männer und die gesamte Gesellschaft erziehen. Denn die Betreuung der Kinder und der Haushalt dürfen nicht nur Sache der Frauen sein!

Diese Debatte gibt es auch hier in Deutschland: Wenn es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, nehmen noch immer vor allem Frauen Elternzeit, arbeiten nach der Baby-Pause in Teilzeit, verdienen weniger Geld als Männer. Und derzeit sind nur 31 Prozent der Bundestagsabgeordneten weiblich, in Vorständen deutscher Unternehmen sind Frauen deutlich unterrepräsentiert.

Das hat mich tatsächlich sehr überrascht. Als ich in den späten 1980er Jahren in Deutschland studierte, war mir das nicht bewusst. Als Frauenministerin wurde ich von der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer internationalen Konferenz eingeladen. Dort habe ich realisiert, dass die in Palästina existierenden Probleme und Themen, auch in Deutschland präsent sind. Das sind tatsächlich globale Phänomene! Natürlich hat Deutschland mehr als Palästina erreicht, was die Gleichberechtigung von Frauen betrifft. Schon die äußeren Umstände sind verschieden: Deutschland ist ein unabhängiger, demokratischer Staat, ein starker wirtschaftlicher Player mit einem guten Gesundheitssystem – und liegt damit auf einer ganz anderen Ebene als Palästina. Aber selbst in einem hoch entwickelten Land wie Deutschland gibt es gesellschaftliche Probleme. Auch hier sind Frauen nicht in allen Bereichen gleichberechtigt. Auch hier halten sich alte Strukturen, überkommene Rollenbilder und Stereotype.

Haben Sie auf Ihrem eigenen beruflichen Weg gegen Widerstände kämpfen müssen, weil sie eine Frau sind?

Nein. Für mich war die Frauenfrage nie ein Thema. Ich habe meine eigenen Ziele verfolgt und keine Grenzen dabei wahrgenommen. Sicherlich war es förderlich, dass mein Vater das Studieren in Deutschland unterstützt hat. Er war sehr tolerant. Dass er mich in den 1980er Jahren nach Deutschland gehen lassen hat, war schon ungewöhnlich. Aber ich wusste damals auch genau, was ich wollte. Frauen und Männer sind nicht gleichberechtigt, bis heute noch nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass jede Frau es schaffen kann, wenn sie es wirklich will und dafür kämpft. Das gilt natürlich genauso für Männer. Dazu gehört auch der Mut, sich Herausforderungen zu stellen. In dem Moment, in dem ich als promovierte Architektin ein hohes politisches Amt annehme, ist das auch ein Signal an die ganze Gesellschaft: an Frauen und Männer gerichtet, um Politik mitzugestalten. Ich hoffte, dass mein Weg andere Frauen motiviert, eigene Schritte zu wagen.

Aber als Ministerin wurde die Frauenfrage für Sie schließlich doch relevant…

Erstmals als Frauenministerin habe ich realisiert, wie schwierig es für andere ist, ganz besonders für palästinensische Frauen. Wir haben viel gegen die Gewalt, die Frauen aufgrund unserer gesellschaftlich-politischen Situation erfahren, gekämpft. Die militärische Gewalt, die wir durch die Besatzung und damit von außen erleiden müssen, wird nur zu oft innerhalb der Gesellschaft weitergegeben. Tragischer Weise entlädt sie sich in den palästinensischen Familien. Frauen, die durch Besatzung und Familie ohnehin schon der Doppelbelastung ausgesetzt sind und Kinder als schwächste Glieder bekommen sie dann zu spüren. Ein weiteres Problem der Frauen ist der eingeschränkte Zugang zur Gesundheitsversorgung. Viele haben zum Beispiel Angst, zur Entbindung ihrer Kinder Krankenhäuser aufzusuchen, weil sie durch die fehlende Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden und erst Checkpoints passieren müssen. Auch die schwierige wirtschaftliche Situation und die hohe Arbeitslosigkeit tragen zur Gewalt in den palästinensischen Familien bei. Die Prävention von Gewalt gegen Frauen war also ein ganz wichtiges Thema.

Zusätzlich zum Thema Gewalt war eine weitere zentrale Frage: Wie können wir palästinensischen Frauen befähigen, mehr Rechte zu bekommen und ihre Chancen wahrzunehmen? Wie können wir Empowerment-Programme für Frauen entwickeln? Welche Gesetze müssen wir reformieren? Wie können wir sicherstellen, dass Frauen sich stärker an wichtigen Entscheidungen beteiligen? Dabei war mir besonders wichtig, nicht nur mit Frauen zu arbeiten, sondern mit der gesamten Gesellschaft. Ich wollte mit allen Schichten der Gesellschaft und gerade auch mit Männern ins Gespräch kommen. Es reicht nicht, dass wir Frauen von der Gleichberechtigung überzeugt sind. Die Gesellschaft muss die Gleichberechtigung mittragen. Gerade in einem konservativ-religiösen Kontext gilt es zu überlegen: Wie können anders Denkende von neuen Werten überzeugt werden? Wie kann ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, um eine positive Veränderung zu schaffen?

Und wie gelingt das?

Es ist wichtig, schon in den Schulen damit zu beginnen. Indem wir unsere Kinder mit Werten, wie Gleichberechtigung, in gegenseitigem Respekt, Diversität erziehen und Unterrichtseinheiten dazu im Curriculum verankern, legen wir einen wichtigen Grundstein. Wir müssen uns bewusst machten, welche Stereotypen vielleicht schon in Schulbüchern vermittelt werden. Frauen müssen sich klarmachen, wie sie ihre Kinder erziehen, ganz besonders die Jungen. Durch die Bildungsarbeit in unserer Gesellschaft und unserer Kultur können wir ein Umdenken bewirken. Parallel dazu müssen neue Strukturen erarbeiten werden, die Frauen mit Kindern absolut gleiche Chancen wie Männern ermöglichen. Das betrifft die Schul- und Ausbildung, das Studium an Universitäten und auch den Berufsalltag. All das habe ich als Ministerin unterstützt. Ich erachte die internationale Vernetzung als Instrument zum Schutz der Frauenrechte für sehr wichtig. Wir wollen als aktiver Teil der Staatengemeinschaft auf internationale Ebene präsent sein und sind deshalb wichtigen Abkommen beigetreten, wie beispielsweise CEDAW – dem internationalen Abkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung gegen Frauen. Wie alle anderen Staaten auf der Welt wollen auch wir PalästinenserInnen unseren Beitrag zum Schutz der Frauenrechte leisten.

Sie haben zwei Töchter und einen Sohn. Denken Sie, dass junge Frauen heute dieselben Chancen haben wie junge Männer?

Hundertprozentige Gleichberechtigung gibt es noch nirgends auf der Welt. Aber sie ist möglich! Wir müssen es nur wollen. Und wir können Gleichberechtigung zuallererst in der Familie leben. Das wird die Gesellschaft prägen – ob in Palästina, in Deutschland oder einem anderen Land. In unserer Familie sind mein Partner und ich sowie mein Sohn und meine beiden Töchter gleichberechtigt. Wir haben die gleichen Rechte und die gleichen Verantwortungen. Wir arbeiten miteinander und unterstützen uns. Ich denke, dass meine Kinder dieselben guten Startbedingungen hatten. Talitha Kumi ist eine moderne Schule mit zusätzlichen Angeboten, wie Musik und Sport, Fahrten ins Ausland darunter zu internationalen Konferenzen. Talitha Kumi hat dazu beitragen, dass meine Kinder offene Menschen sind. Sie sind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass wir alle etwas erreichen können. Ich glaube jedoch, dass meine Kinder es schwerer haben werden als ich damals. Heute sind die Aussichten in Palästina zu leben, weitaus schwieriger als vor 30 Jahren. Und das macht mich traurig. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob meine Kinder und ihre Generation die Heimat als einen sicheren, lebenswerten Ort ansehen. Für mich ist es ein Grund mehr, mich zu engagieren. Ich möchte, dass wir trotz allem eine offene Gesellschaft bleiben. Da leistet die lokale Kirche eine wichtige Rolle, unterstützt durch internationale Organisationen. Das ist auch für uns als palästinensische ChristInnen sehr wichtig. Wir sollten uns einen Funken Hoffnung auf eine bessere Zukunft bewahren. Aufgeben ist für mich keine Option.

 

About: Dr. Khouloud Daibes ist seit 2013 Botschafterin und Leiterin der Palästinensischen Mission in Berlin. Die promovierte Architektin ist Absolventin der evangelisch-lutherischen Schule Talitha Kumi und studierte in Deutschland. Im Jahr 2007 wurde sie Ministerin für Tourismus der neu gegründeten Einheitsregierung, wenig später übernahm sie zusätzlich den Posten der Frauen-Ministerin. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. „Ohne meinen Partner hätte ich all das nicht geschafft“ sagt sie. Seit sieben Jahren lebt sie mit den beiden Töchtern in Berlin, ihr Mann und ihr Sohn leben in Jerusalem. „Ohne großes Verständnis und persönliche Opfer wäre all das nicht möglich. Wir tun das in dem Bewusstsein, eine bessere Zukunft in Palästina zu schaffen.“