Women Wage Peace: Frauen gehen einen anderen Weg

05.12.2024 | Women Wage Peace wollen den Gewaltkreislauf im Nahen Osten mit Empathie und Entschlossenheit beenden. Regula Alon ist mitverantwortlich für die Auslandsbeziehungen der Bewegung. Dr. Simon Kuntze sprach mit ihr.

Simon Kuntze: Vielen Dank, dass Du dir Zeit nimmst für ein Gespräch. Wie stellt sich für Dich die Situation in Israel aktuell dar? Was ist für Women Wage Peace (WWP) gerade das Wichtigste?

Regula Alon: Was uns aktuell bewegt, ist das Leiden auf beiden Seiten. Die Angst der Mütter um ihre Kinder, um ihre Verwandten. Auf unserer Seite die Angst unserer Mütter um die Soldaten, auf der anderen Seite die Angst der palästinensischen Mütter um ihre Angehörigen. Das ist das eine, das uns bewegt. Das andere: Uns wird immer klarer, dass ein Ende des Krieges und die Freilassung der Geiseln nur über Verhandlungen möglich sind. Nach dem ersten Geiselabkommen wurde ein Teil der Geiseln freigelassen, seither geschieht nichts mehr. Und kaum welche wurden befreit, immer mehr von den 101 Geiseln sterben.

Women Wage Peace demonstrieren für Freilasssung der Geiseln

Was habt Ihr für Möglichkeiten, Euch für die Freilassung der Geiseln zu engagieren und für ein Ende des Krieges?

Wir Frauen gehen jeden Tag auf die Straße. Angefangen hat das in Tel Aviv, da kamen einige Frauen zusammen, gleich nach dem 7. Oktober. Und dann sind die Familien der Geiseln dazugekommen. Diese Bewegung ist immer größer geworden. Unsere Frauen stehen gemeinsam mit vielen anderen Menschen jeden Tag auf der Straße, am Eingang zum Armeehauptquartier in Tel Aviv, wo das Kriegskabinett tagt. Ab dem 7. Oktober 2023 hatten wir sehr viele interne Diskussionen über den Krieg, und es gab viele unterschiedliche Meinungen. Wir sind keine Pazifistinnen. Wir haben uns vielleicht nicht voll hinter den Krieg gestellt, aber immer gesagt: Wir haben Verständnis dafür, weil wir im Nahen Osten leben, wo man keine Schwäche zeigen darf. Aber je länger der Krieg dauert, überwiegt das Gefühl, dass er nur noch aus politischen Gründen geführt wird, damit die Regierung weiter besteht. Auch in der Gesellschaft wer- den die Stimmen lauter, dass der Krieg beendet und die Freilassung der Geiseln verhandelt werden muss. Die Geiseln sind ein sehr zentraler Punkt in unserer Bewegung, aber auch in der israelischen Gesellschaft.

Neben den Geiseln gibt es viele Menschen, die an der Grenze zum Gazastreifen gelebt haben und evakuiert worden sind, auch an der Grenze zum Libanon. Engagiert Ihr euch auch für diese Menschen?

Ja, unbedingt. Viele der evakuierten Menschen können nur im Rahmen eines Waffenstillstands und eines Abkommens in ihre Häuser zurückkehren. Die Evakuierung ist eine Riesentragödie, über die kaum jemand spricht. Im Süden ist ein Teil der Menschen wieder in die Ortschaften zurückgekehrt, zivile Organisationen helfen mit, ihre Häuser wieder aufzubauen. Andere sind umgezogen und bauen sich ein neues Leben auf. An der libanesischen Grenze ist es sehr gefährlich, die Grenzdörfer sind militärisches Sperrgebiet, die Menschen leben weiterhin in Hotels weiter südlich. Aber die Raketen töten beinahe jeden Tag jemanden im Norden. Im Süden und im Norden müssen Dörfer und Kibbuzim wieder neu aufgebaut werden, es gibt sehr viel Zerstörung. Ein Teil der Menschen möchte jedoch gar nicht zurückzukehren. Irgendwie übernimmt der Staat hier keine Verantwortung, die Regierung hat quasi die Grenzgebiete aufgegeben. So wie auch zuvor die Menschen an der Grenze zu Gaza nicht geschützt wurden in den Kibbuzim. Es war niemand dort, während vieler Stunden. Auch deshalb konnte dieses Massaker so schrecklich werden. Man hatte diese Gebiete quasi aufgegeben. Das Gleiche geschieht im Norden.

Was meinst Du, was zeichnet die Frauen eigentlich aus, die bei Euch mitmachen?

Es ist das Wissen, dass wir einen politischen Horizont brauchen, um aus dieser völlig verfahrenen Situation rauszukommen. Das ist das, was uns besonders macht, genauso wie unsere palästinensische Partnerbewegung, die Women of the Sun (WOS). Wichtig sind eine andere Sprache, die sich nicht nur um gegenseitige Schuldzuweisungen dreht, das Zuhören und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Wir agieren nicht aus einer Opferhaltung heraus und betreiben keine Schwarz-Weiß-Malerei. Wir versuchen, die ganzen Grautöne zu sehen.

Internationale Anerkennung von Women Wage Peace

In Israel trifft Eure Arbeit auf viel Unverständnis. International gibt es aber große Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sehe ich das richtig?

Ja, international stimmt das, international erhalten wir sehr viel Aufmerksamkeit und Zuspruch. WWP wurde für den Friedensnobelpreis nominiert, unsere am 7. Oktober ermordete Mitgründerin Vivian Silver wurde posthum mit dem Hessischen Friedenspreis ausgezeichnet, das TIME Magazine zählt Yael Admi (WWP) und Reem Hajajreh (WOS) zu den »Women of the Year« 2024. Wir erhielten wichtige Preise und Anerkennungen, u. a. von Hillary Clinton, Meryl Streep, Ophrah Winfrey sowie George und Amal Cloney. International gibt eine breite Berichterstattung über uns. Hier in Israel sind wir im Kriegsmodus, ohne Zukunftsperspektive, angeführt von dieser Regierung, die ja wirklich denkt, man kann den Krieg noch ein oder zwei Jahre weiterführen. Viele Menschen sind daher hoffnungslos. Über Women Wage Peace gibt es zynische Bemerkungen: »Wo ist der Friede, was denkt ihr euch eigentlich?« »Man kann doch nicht mit der Hamas verhandeln.« Wir verfolgen aber immer wieder Programme, um mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Israel ins Gespräch zu kommen, zum Beispiel mit Siedlerinnen. Obwohl wir eine eher nach links tendierende Organisation sind, verlaufen diese Gespräche sehr gut. Viele Gespräche finden zwischen jüdischen und arabischen Frauen statt, vor allem im  Norden, wo ungefähr die Hälfte der Bevölkerung arabisch ist.

Wie wichtig ist die internationale Zustimmung und das Interesse an Eurer Arbeit für Euch?

Dieser Zuspruch und die Anerkennung sind sehr wichtig für uns, auch das Bewusstsein, dass es hier in Israel eine andere Stimme gibt: »diese Frauen«. Das bewirkt einen internationalen Druck und bewegt etwas in der Diplomatie. Wir haben diesen Zuspruch auch gespürt, als wir bei Euch, beim Jahresfest des Jerusalemsvereins waren. Ich glaube, dass das, was wir in der Zusammenarbeit von WWP mit WOS vorleben, wichtig ist in dieser polarisierten Welt – trotz allem zusammen weitergehen und aufeinander hören.

Am 1. Juli haben sich Friedensaktivistinnen und -aktivisten aus unterschiedlichen israelischen Organisationen auf einer großen Konferenz getroffen, um die Zusammenarbeit zu stärken und der Friedensbewegung neue Impulse zu geben. Hat das schon Früchte getragen, auch angesichts der Ausweitung der Militäroffensive auf den Libanon?

Unsere Zusammenarbeit geht weiter, wir arbeiten an einer Reihe von Projekten zusammen. Wir müssen gehört werden in der israelischen Gesellschaft, unsere Kreise erweitern. Allein im Dezember sind zwei verschiedene Events geplant, damit wir gehört werden. Leider berichten die israelischen Mainstream-Medien kaum über politisch weitreichende Ziele oder zukünftige Verhandlungen, die uns allen in der Region wieder ein normales Leben ermöglichen würden. Organisationen wie WWP und viele andere Zivilorganisationen sind jedoch die Hoffnungsträger der israelischen Gesellschaft in diesen dunklen Zeiten.

Regula Alon ist gebürtige Schweizerin und lebt seit 45 Jahren in Israel. Zu Women Wage Peace ist sie 2017 gestoßen. In der Bewegung sind 50.000 jüdische und arabische Frauen aktiv. Alon ist mitverantwortlich für die Auslandsbeziehungen, hilft beim Aufbau von Unterstützungsgruppen und ist in der Lobbyarbeit tätig.

Dr. Simon Kuntze ist Nahostreferent des Berliner Missionswerkes und Geschäftsführer des Jerusalemsvereins