27.11.2024 | Dietrich Werner hat mit dem Weltkirchenrats-Vorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm über Impulse aus der Ökumene zur Bewältigung des Nahostkonflikts gesprochen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Dietrich Werner: Für viele verbinden sich mit dem Gazastreifen in den vergangenen Monaten Bilder nicht des Friedens, sondern der grauenhaften Zerstörung, des unendlichen Leidens von Kindern, Familien, Alten, der kompletten Ausweglosigkeit, die schwer auszuhalten sind. Gleichzeitig haben selbst nach den furchtbaren Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober 2023, die zu über 230 gefangenen israelischen und anderen Geiseln in Gaza führten, Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf Israel nicht aufgehört. Viele können nur noch wegsehen und dicht machen, wenn sie Bilder von der nicht endenden Spirale der Gewalt aus dem Nahen Osten sehen. Vom palästinensischen Pastor Isaak Munther und seiner lutherischen Kirche in Bethlehem ging in der letzten Adventszeit das Bild eines palästinensischen Jesuskindes in der Krippe um die Welt, das von Trümmern bedeckt und verschüttet war. Was motiviert Dich selber, dem unermesslichen Leiden nicht einfach auszuweichen? Was motiviert Dich als Moderator des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen, nicht wegzusehen, sondern dranzubleiben und nicht nachzulassen, für Wege des Friedens zu werben und den Lernprozess für Frieden und Gerechtigkeit weiterzugehen?
Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm: Zunächst einmal motiviert mich ganz einfach das Erschrecken über das, was da passiert und das unendliche Leiden, das damit verbunden ist. Meine intuitive menschliche Reaktion darauf ist der Impuls, irgendetwas dazu beizutragen, um das Leid zu mindern oder sogar irgendwann zu überwinden. Dann motiviert mich aber auch, dass ich Menschen auf beiden Seiten kenne und deren Verzweiflung sehe. Wenn man konkrete Menschen vor Augen hat, kann man das erst recht nicht zur Seite schieben. Und schließlich ist der Nahostkonflikt ein Thema, das den ÖRK seit seiner Gründung begleitet hat. Deswegen bin ich natürlich auch in meiner Funktion als Moderator damit intensiv befasst. Als Deutscher, der mit dem Versuch, die Lehren aus dem Dritten Reich zu ziehen, aufgewachsen ist, bringe ich ein enges Verhältnis zum Judentum mit. Genau aus der gleichen Wurzel kommt aber auch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und einem Leben in Würde für alle Menschen, von dem die Solidarität mit Palästina geprägt ist.
Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sich bei seiner Gründung 1948 nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges an dem Grundbekenntnis orientiert „Krieg soll nach Gottes Wille nicht sein“. Deshalb hat er sich immer wieder mit der Vision eines gerechten Friedens beschäftigt. Sowohl ein entschiedener Kampf gegen den Antisemitismus wie auch das öffentliche Eintreten für Gerechtigkeit und ein Ende der Besatzung gehören zu seinem Profil. Warum engagiert sich der ÖRK für den Frieden? Was hat den ÖRK in seiner Positionierung zum Nahost-Konflikt bestimmt und was sind die wichtigsten Erklärungen des ÖRK nach dem 7. Oktober 2023 und ihr Lernprozess? Was waren wichtige Erkenntnisse des digitalen Besuchs bei den Kirchenoberhäuptern im Heiligen Land im August 2024?
Es ist in der Tat wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass der Kampf gegen den Antisemitismus den ÖRK seit seiner Gründung begleitet. Deswegen haben wir in der ersten Sitzung des Exekutivausschusses nach dem 7. Oktober im November 2023 in Abuja/Nigeria die kategorische Verurteilung von Antisemitismus als Sünde wider Gott und die Menschheit durch die ÖRK-Gründungsvollversammlung in Amsterdam bekräftigt und unsere tiefe Sorge über die ausufernden hasserfüllten Taten und die Manifestationen von Antisemitismus und Hass der arabischen und muslimischen Bevölkerung in der Region und weltweit zum Ausdruck gebracht. Und wir haben im Lichte der Angriffe auf Jüdinnen und Juden überall auf der Welt, die in ungerechtfertigter Weise für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden, die schon früher getroffene Feststellung noch einmal unterstrichen, dass „die Angst der jüdischen Menschen in der Welt berechtigt ist, dass der Weg von antisemitischen Einstellungen und Hetze zu Völkermord ein sehr kurzer ist.“ Gleichzeitig haben wir in Abuja ebenso wie bei der nächsten Sitzung im Juni 2024 in Bogota das völlig unverhältnismäßige Bombardement des Gazastreifens durch die israelische Armee mit seinen tausenden Todesopfern, viele unter ihnen Kinder, scharf kritisiert und zur Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen auf beiden Seiten durch die zuständigen Rechtsinstitutionen aufgerufen. Sowohl in Abuja als auch in Bogota haben wir einen gerechten Frieden als die einzige Möglichkeit gesehen, wirklich Sicherheit und Wohlstand für beide Seiten zu ermöglichen. Die dritte wichtige Erklärung ist für mich das, was wir nach unserem digitalen Besuch in der Region gesagt haben. Das Gespräch mit den Ärzten im Gazastreifen – um nur ein Beispiel zu nennen – hat mich erschüttert. Ein Arzt hat uns gesagt, er habe 310 Kinder an dem Tag untersucht. 105 von ihnen waren unterernährt. Das Leid in Gaza schreit zum Himmel.
Als Anwalt der Kirchen für einen Frieden in Gerechtigkeit gerät der ÖRK immer auch mal wieder selbst in Kritik. Obgleich er sich immer wieder gegen eine bipolare Vereinfachungslogik wendet, mit der man andere rasch in ein Entweder-Oder-Schema („Entweder Du bist pro-Israel oder Du bist pro-Palästina“) pressen kann, wird ihm Einseitigkeit einer pro-palästinensischen Orientierung vorgeworfen. Wie kommt das? Und wie kann man verhindern, dass man in den Sog von Pauschalisierungen und Polarisierungen gerät? Die Rolle extremistischer Positionen hat sowohl innerhalb Israels als auch innerhalb palästinensischer Akteure und Hintergrundmächte zugenommen. Wie kann die weltweite Ökumene verhindern, dass pauschalisierte Feindbilder an die Stelle von differenzierter Wahrnehmung beider Seiten treten (vgl. Plädoyer der Bayerischen Initiative der „Freunde Abrahams“*). Was kann die internationale ökumenische Bewegung dazu beitragen, eine zunehmende Polarisierung und die Zunahme extremistischer Positionen dort (und bei uns) zu verhindern?
Zunächst einmal ist es klar, dass wir in dieser existentiellen Frage, wie wir das als ÖRK bei allen Fragen tun, zuerst auf unsere Mitgliedskirchen hören und uns deren Perspektive nahegehen lassen. Da wir natürlich keine jüdischen Gemeinden als Mitglieder haben, müssen wir deren Sicht auf andere Weise miteinbeziehen. Das tun wir etwa durch Dialoge mit jüdischen Organisationen, insbesondere dem International Jewish Council for Interreligious Consultation (IJCIC), aber auch durch viele Einzelkontakte, die ja auch die Mitgliedskirchen mitbringen. Vor allem aber gebietet es unsere tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch geschaffen ist zum Bilde Gottes, das Leid auf allen Seiten zu sehen und sich nahegehen zu lassen. Deswegen hat etwa unser Generalsekretär Jerry Pillay nach der Hinrichtung der sechs israelischen Geiseln Ende August erklärt, dass der ÖRK solche Brutalität verabscheut und zu einer unverzüglichen und bedingungslosen Freilassung aller noch gefangengehaltenen Geiseln und ihrer sicheren Rückkehr zu ihren Familien aufgerufen. Der einzige wirklich wirksame Weg, um aus den Vereinfachungen herauszukommen, ist eine radikale Leidsensibilität, die nicht fragt, auf welcher Seite das Leid liegt, sondern es sich einfach nahegehen lässt, anstatt es gleich wieder zu relativieren. Genau in diesem Bemühen müssen wir als Kirchen in der ersten Reihe stehen. Und als Weltkirchenrat haben wir, da wir so unterschiedliche Kontexte unter unserem Dach vereinen, vielleicht auch besondere Möglichkeiten.
Du hast viele Beziehungen zu den Kirchen und Universitäten Südafrikas, wo es gerade bei der Verwendung von Begriffen wie „Apartheitsstaat“ und „Boykott“ eine andere, kontextuell geprägte Positionierung gibt als im ÖRK insgesamt oder auch als bei uns in Deutschland. Was kann die ökumenische Bewegung dazu beitragen, dass kontextuell unterschiedlich geprägte Wahrnehmungen um Frieden in Nahost miteinander im Gespräch bleiben und nicht vorschnell mit der Pauschalkritik „Antisemitismus“ ausgeblendet und verurteilt werden?
Zunächst einmal muss man nüchtern feststellen, dass die Art wie in Deutschland mit dem Antisemitismus-Vorwurf umgegangen wird, beim Rest der Welt weithin auf Unverständnis und auch Befremden stößt. Wenn es um die tiefsitzenden Vorurteile und rassistischen Haltungen von Rechtsradikalen geht, die ja zum Holocaust geführt haben, gibt es keinen Dissens. Aber wenn es um Kritik, auch scharfe Kritik, am Handeln der israelischen Regierung geht oder um bestimmte Forderungen wie Boykott oder Einordnungen der israelischen Palästinenser-Politik als „Apartheid“, dann diskutiert man darüber vielleicht kontrovers, aber es wird nicht als Antisemitismus gesehen. Ich wünsche mir, dass wir in Deutschland diesen außerdeutschen Blick stärker wahrnehmen und verstehen. Zugleich versuche ich als Deutscher auch verständlich zu machen, dass das Wort „Boykott“ in Südafrika der erste Schritt in die Freiheit war, für die Juden in Deutschland aber der erste Schritt in die Gaskammern. Wir brauchen viele Gespräche und eine Hörbereitschaft, die auch in dieser aufgeheizten Debatte zu verstehen versucht, was den jeweils anderen leitet und aus welchem Kontext heraus er oder sie spricht. Dabei muss klar sein, dass nicht nur die Kontextualität eine wichtige Rolle spielen muss, sondern auch die Interkontextualität, also dass es nicht jüdisches, christliches oder muslimisches Leiden, sondern nur menschliches Leiden gibt.
Eine Nahost-Tagung in Hamburg im Juni 2024 hat jüngst – unter Deiner Mitwirkung – die These aufgestellt, dass unser Anteil an einer Friedenslösung in einer Überwindung der Empathie-Blockaden bestehen muss, d. h. in einem Engagement dafür, dass wir auch den Schmerz der anderen verstehen. Deshalb bräuchte es eine engere Verknüpfung von jüdisch-christlichem Gespräch und ökumenisch-kirchlich-palästinensischer Dialogarbeit ebenso in Deutschland wie international. Gibt es Beispiele dafür, dass die internationale Ökumene etwas beitragen kann zur Überwindung solcher Empathie-Blockaden auf beiden Seiten?
Die Tagung war genau deswegen so wichtig, weil die Gruppen mit gewachsenem authentischem Engagement auf den beiden unterschiedlichen Seiten endlich mal zusammengekommen und ins Gespräch gekommen sind. Das geschieht noch viel zu wenig, auch auf internationaler Ebene. Interreligiöse Treffen wie etwa die der ökumenischen Gemeinschaft St. Egidio sind für mich Beispiele dafür, wie das gelingen kann. Wir werden auch im ÖRK darüber nachdenken müssen, wie wir uns noch intensiver an dieser Aufgabe beteiligen können.
Die angesprochene Tagung in Hamburg beklagt auch, dass wesentliche Teile der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaft in der deutschen Öffentlichkeit viel zu wenig gehört und wahrgenommen werden, z. B. all die zivilgesellschaftlichen Friedens- und Dialoginitiativen, von denen es viel mehr gibt als viele wissen. Was kann die ökumenische Bewegung dazu beitragen, dass Plattformen des Dialoges entstehen, auf denen solche Partner bei uns mehr gehört werden?
Wir können Lautverstärker sein und einfach, wo immer möglich, auf solche Beispiele von Versöhnungsbemühungen quer zu den Lagern hinweisen, sie ermutigen und nach Kräften unterstützen.
Der ÖRK ist in Nahost vor Ort nach wie vor auch direkt präsent, zum Beispiel im EAPPI Programm, aber auch in dem Jerusalem Interchurch Center. Was kann der ÖRK vor Ort in Israel/Palästina dazu beitragen, dass Wege des Dialogs und der Entfeindung gefunden werden?
EAPPI ist ein wichtiges Programm, das hilft, die Ungerechtigkeit, denen Palästinenser, insbesondere in den besetzten Gebieten ausgesetzt sind, öffentlich sichtbar zu machen. Über Kontakte zu engagierten Israelis versucht man gemeinsam, für eine Überwindung dieses Unrechts und auf einen gerechten Frieden hin zu wirken. Wenn wir, etwa vertreten durch den Generalsekretär, aber auch durch die Spitzen der Kirchen in Jerusalem, in diesem Sinne auf die Politik einzuwirken versuchen, dann steht das im Hintergrund.
Die Advents- und Weihnachtszeit ist eine besondere Zeit im Kirchenjahr, bei der unsere Hoffnung auf Frieden wie ebenso die Verbundenheit mit den Kirchen des Heiligen Landes in besonderer Weise thematisiert wird. Was wären wichtige praktische Zeichen in dieser Zeit dafür, dass unsere Friedenshoffnung mit anderen Menschen geteilt wird. Welche Zeichen der Verbundenheit und des Friedens kann es geben sowohl mit jüdischen Mitbürgern bei uns, die sich bedrängt sehen durch antisemitische Angriffe oder Identifizierung mit einem israelischen Regime, das sie nicht gewählt haben, als auch mit arabischen Mitbürgern, die von den Leiden ihrer palästinensischen Geschwister in Gaza und im Westjordanland berührt sind und diese Schmerzen ausdrücken möchten, ohne dabei sofort als Unterstützer von militanter Gewalt diskreditiert zu werden?
Es wäre wunderbar, wenn es uns gelingen würde, Weihnachten zu einer Zeit zu machen, in der wir die Mauern, die uns von der Empathie für die andere Seite trennen, einmal bewusst niederreißen, in der wir uns für eine radikale Leidsensibilität öffnen. Wo wir Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammenbringen können, sollten wir es tun. Der Friedensfürst, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern, ist mit einem Schrei der Gottverlassenheit am Kreuz gestorben. Er verbindet uns mit allen, die heute leiden. Und er hält in uns die Hoffnung wach, dass das Leiden, das wir sehen, nicht das letzte Wort ist, so wie sein Tod nicht das letzte Wort war.
Heinrich Bedford-Strohm wird auf dem Jahresfest des Jerusalemsvereins am 2. März 2025 die Predigt halten (Französische Friedrichstadtkirche, 11 Uhr).
Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm ist Vorsitzender des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen und war Landesbischof der ELKB und EKD-Ratsvorsitzender.
Prof. Dr. Dr. h.c. Dietrich Werner ist Senior Research Fellow an der HU Berlin und Präsident der Globethics Foundation, Genf. Er war Referent für Theologische Grundsatzfragen bei Brot für die Welt.
*In dem Votum der Initiative „Freunde Abrahams“ aus der Bayerischen Landeskirche heißt es: „Nicht „Israel“, „die Israelis“, „die Zionisten“ oder gar „die Juden“ stehen auf der einen Seite des Konflikts, und „Palästina“, „die Palästinenser“, „die Araber“ oder gar „die Muslime“ auf der Gegenseite. Sondern es stehen auf beiden Seiten sowohl solche Menschen, die eine friedliche und gerechte Lösung anstreben gegenüber solchen, die sich dem verweigern.“ Stellungnahme „7. Oktober 2023 und der Gaza-Krieg“). In: https://www.freunde-abrahams.de/wp-content/uploads/2024/02/Handreichung_Nahost_2024.pdf
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