11.10.2024 | Die Menschen im Jordantal sind zunehmend der Gewalt radikaler Siedler:innen ausgesetzt. Zusammen mit israelischen Friedensaktivist:innen leisten die palästinensischen Gemeinden gewaltlosen Widerstand gegen die Angriffe. Eine EAPPI-Teilnehmende berichtet aus dem Jordantal.
Wie ein roter, brennender Faden ziehen sich durch all unsere Besuche hier im Jordantal die Berichte über die Gewalt radikaler Siedler:innen vor allem gegen abgelegene Hirten- und Beduinengemeinden. Die Menschen hier erzählen uns von täglichen und auch nächtlichen Drohnenüberflügen, bei denen von ihren Wohnstätten und der Infrastruktur ihrer Gemeinden Aufnahmen gemacht werden, von der Zerstörung ihres Weidelands und ihrer Olivenbäume. Und nicht wenige berichten uns von Angriffen, die der Einschüchterung dienen sollen, wie etwa dem nächtlichen Feuerlegen rund um ihre Wohnzelte.
Es ist eine alarmierende Entwicklung, die sich während unseres dreimonatigen Einsatzes bedrohlich zugespitzt hat. Das spiegeln auch die z.B. von der UN erhobenen Zahlen wieder. Im Zeitraum zwischen 7. Oktober 2023 und 26. August 2024 wurden 1.270 Übergriffe von Siedler:innen auf Palästinenser:innen und/oder deren Eigentum dokumentiert. Mehr als 1.500 Palästinenser:innen, etwa die Hälfte von ihnen Kinder, sahen sich im Kontext von Siedlergewalt dazu gezwungen, ihr Zuhause aufzugeben und an sicherere Orte zu ziehen. Wir erleben, dass Familien, die schon lange vor Beginn der Besatzung auf ihrem Land lebten, sich nun fragen, wie lange sie den Übergriffen der Siedler:innen noch standhalten können. Sie fühlen sich alleine gelassen, das wird uns immer wieder gesagt, Verzweiflung macht sich breit. Den Menschen, die wir hier im Jordantal treffen, ist bewusst, dass die aktuelle israelische Regierung die Siedlungen und Außenposten fördert wie nie zuvor. Dass Siedlergewalt und andere Menschenrechtsverletzungen nur sehr selten verfolgt werden und Armee und Polizei nur selten eingreifen.
Was vielleicht auf den ersten Eindruck harmlos wirkt, wie etwa das Kaffeekochen zweier jugendlicher radikal-nationalistischer Siedler auf dem Boden inmitten der Zelte einer Beduinengemeinde ist nicht nur ein Einbrechen in die Intimsphäre der Familien, sondern schürt viele Ängste vor Vertreibung. Denn meist sind die Siedler:innen bewaffnet, sei es mit einem Messer oder einer Maschinenpistole.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal vor einem 15jährigen Jugendlichen Angst haben könnte“ sagt Wissam*, Farmer in der Nähe von Bardala im Norden der Westbank, der während der Weizenernte auf seinem Feld von einem 15-jährigen bewaffnetem Siedler bedroht wurde. Ebenfalls in der Nähe von Bardala wurden einem Hirten beim Weidegang 67 Schafe gestohlen. Er berichtet uns, dass er etwas entfernt vom Schafgehege mit den Tieren unterwegs war, um Futter zu finden, als mehrere Siedler von der benachbarten Siedlung Mehola kamen und die Schafe und Ziegen lockten und mitnahmen. Er habe noch versucht, mit den Tieren in Richtung Stall umzudrehen, konnte aber nur mit 13 Ziegen zurückkehren. Schwangere Tiere hätten aufgrund der schnellen Flucht ihre Lämmer verloren. Er sagt, dass er glücklich sein kann, weil die Siedler nicht auf ihn schossen.
In Bardala selbst, dem nördlichsten Dorf im Jordantal, so sagt uns ein Mitglied des Dorfrates, würden die Männer des Dorfes noch gemeinsam den Siedler:innen entgegentreten, gewaltlos, alleine durch die Macht der Mehrheit gegenüber den zumeist allein oder in kleinen Gruppen auftretenden Siedler:innen. Die meist an entlegeneren Orten lebenden Hirten- und Beduinenfamilien jedoch sind der Siedlergewalt sehr viel stärker ausgesetzt, sie sind verwundbarer. Täglich hören wir von neuen Übergriffen.
Maria Schweßinger, im September 2024
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Hinweis der Autorin: „Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.“
* Name geändert
Titelbild: Direkt hinter den Wohnzelten einer palästinensischen Gemeinde im Jordantal haben Siedler:innen israelische Fahnen aufgestellt und so ihren Anspruch auf das Land markiert; Foto © WCC-EAPPI/Maria Schweßinger