Kairos Palästina – Herausforderung für den Jerusalemsverein

Der Vorstand und die Vertrauensleute des Jerusalemsverein haben sich seit der Veröffentlichung im Dezember 2009 intensiv mit dem „Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“ (Kairos-Palästina-Dokument) auseinandergesetzt. Als Ergebnis des Diskussionsprozesses hat der Jerusalemsverein eine Stellungnahme herausgegeben.

An die Autoren und Unterzeichner des

Kairos-Palästina-Dokumentes

Liebe Schwestern und Brüder aus den Kirchen im Heiligen Land!

Wir senden euch herzliche Grüße im Namen unseres gemeinsamen Herrn, des lebendigen Jesus Christus, der unser Friede ist!

Der Vorstand und die Vertrauensleute des Jerusalemsverein haben sich seit der Veröffentlichung im Dezember 2009  immer wieder und intensiv mit eurem „Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“ (Kairos-Palästina-Dokument) auseinandergesetzt. Als Ergebnis unseres Diskussionsprozesses und als Ausdruck unserer Verbundenheit schreiben wir euch diese Antwort. Wir sehen im Kairos-Palästina-Dokument eine Herausforderung für unsere Arbeit. Seit fast 160 Jahren ist der Jerusalemsverein mit den Christen im Heiligen Land geschwisterlich verbunden. Insbesondere mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche verbindet uns eine intensive Partnerschaft, die wir durch vielfältige Unterstützung ihrer Gemeinden, Schulen und sonstigen Einrichtungen pflegen. Dabei haben wir stets auch die Gesamtheit der Christen im Blick, wissen wir doch, dass die Weltchristenheit im Heiligen Land ihren historischen und spirituellen Ausgangspunkt hat.

Daher freut es uns ganz besonders, dass das Dokument „Die Stunde der Wahrheit“ zeigt, wie stark die ökumenische Zusammenarbeit der Christen im Heiligen Land in den letzten Jahren gewachsen ist. Wir sind beeindruckt von der geistlichen Kraft, die euer Zeugnis gemeinsamen Gebets, biblischer und theologischer Besinnung und geschwisterlichen Meinungsaustauschs ausstrahlt. Wir nehmen es dankbar auf als Ermutigung und Aufforderung, uns in gleicher Weise mit den Schwestern und Brüdern aller Kirchen in unserem deutschen Kontext um eine angemessene Aufnahme und Beantwortung zu bemühen.

Vielfältige Veranstaltungen, die zum Kairos-Palästina-Dokument stattgefunden haben und noch weiter stattfinden sollen, zeigen das. Es ist dem Jerusalemsverein ein Anliegen, dass der Schrei unserer Brüder und Schwestern aus der hoffnungslos scheinenden Situation im Heiligen Land nicht ungehört verhallt und zu nicht nachlassender Fürbitte, zu praktischer Solidarität und zu politischer Unterstützung führt. Mitglieder und Vorstand des Jerusalemsvereins tragen in den Landeskirchen sowie in kirchlichen Einrichtungen in ihrem jeweiligen Wirkungskreis dazu bei, dass die berechtigten Anliegen der palästinensischen Christenheit gehört werden.

Die Besatzung muss beendet werden

Durch Besuche und Kontakte wissen wir aus persönlicher Anschauung, wie tief greifend die Besatzung und die mit ihr zusammenhängenden Pressionen den Lebensalltag, das wirtschaftliche Wohlergehen, das familiäre Zusammenleben, das gesellschaftliche und kirchliche Leben in Palästina auf unerträgliche Weise bedrücken. Mit euch sind wir der Meinung, dass solche Bedrückung gegen das biblische Gebot sowie gegen Völker- und Menschenrecht verstößt. Darum teilen wir die Benennung der Besatzung als „Sünde gegen Gott und die Menschen“: Sünde gegen Gott, weil sie sich von Gottes Willen zu Liebe, Gerechtigkeit und Frieden absondert, Sünde gegen die Menschen, weil sie tagtäglich Leid und Demütigung für unzählige Menschen verursacht. In der Tradition der Propheten sehen wir darin jedoch nicht nur ein individuelles moralisches Fehlverhalten, sondern eine schuldhafte Verstrickung, in der die Menschen strukturell gefangen sind.

Wir sind der Auffassung, dass die Besatzungsmacht Israel nicht monokausal für alles Leid und alles Negative in Palästina verantwortlich ist, weil auch bei den Palästinensern und ihren politischen Führern Versäumnisse, Fehler und Schuld zu beklagen sind. Dennoch stimmt es, dass die Besatzung durch Israel beendet werden muss, wenn ein positives Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Juden, Muslimen und Christen eine Chance haben soll. Wir sind dankbar für eure Botschaft, dass ihr ein solches gemeinsames Leben in Israel und Palästina für möglich erachtet und anstrebt.

Ja zu gewaltfreiem Widerstand

Wir teilen eure biblisch begründete Meinung, dass Widerstand gegen die Besatzung ein Akt christlichen Zeugnisses in Wort und Handeln sein kann. Wir betonen mit euch, dass Recht und Pflicht zum Widerstand gegen das Böse nicht seinerseits böse Mittel und Formen rechtfertigt, und dass insbesondere Widerstand nicht Tod bringen darf, sondern Leben schützen soll. Wir möchten euch dazu ermutigen und – wo immer wir können – euch dabei unterstützen, beispielhafte Formen und Aktionen zivilen Ungehorsams und gewaltfreien Widerstands zu entwickeln und zu praktizieren.

Mit euch gemeinsam verurteilen wir willkürliche und unverhältnismäßige Gewaltanwendung, Raub und Zerstörung von Eigentum sowie Demütigung oder gar Tötung von Menschen, auch wenn dies mit Legitimation oder gar offizieller Beauftragung des israelischen Staates geschieht. Ebenso verwerflich sind gewaltsame Aktionen von palästinensischer Seite. Wir möchten euch als Christen dazu ermutigen, eure Stimme gegen deren Befürwortung in der palästinensischen Gesellschaft zu erheben, denn auch hier geschieht „Sünde gegen Gott und die Menschen“.

Anerkennung eines Staates Palästina jetzt

Deshalb begrüßen wir auch euren dringenden Appell, das von Gewalt geprägte Gegeneinander hinter sich zu lassen und einen Weg zum konstruktiven und für alle Seiten förderlichen Miteinander der Menschen im Heiligen Land zu suchen und zu bahnen. Wir sehen in der gegenwärtig erstrebten Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 durch die Vereinten Nationen einen Hoffnung weckenden Schritt, und wir würden uns wünschen, dass er auch in Israel als glaubhaftes und eindeutiges Signal für den Willen zum Zusammenleben aller Palästinenser mit den Menschen in Israel in Sicherheit sowie gegenseitiger Respektierung staatlicher Verfasstheit und anerkannter Grenzen aufgenommen würde. Wer es ernst meint mit einer Zwei-Staaten-Lösung, muss sich jetzt dazu bekennen.

Nach menschlichem Ermessen gibt es dafür auch ein Zuspät, denn der Raum, in dem ein Staat Palästina entstehen könnte, ist wegen der seit Jahrzehnten ungeminderten und staatlich geförderten israelischen Siedlungspolitik fast nicht mehr vorhanden. Deswegen sollte jetzt der Bitte der Palästinenser entsprochen werden und der Staat Palästina von der Uno anerkannt werden. Welche Alternativen bleiben sonst? Wird es nicht entweder auf einen binationalen Staat oder aber auf eine fortgesetzte Unterdrückung oder gar Vertreibung der Palästinenser hinauslaufen? Da aber alle Seiten für einen Staat Palästina neben dem Staat Israel plädieren, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, diesen Staat Palästina zu schaffen.  Mit euch möchten wir in unseren je unterschiedlichen Kontexten dafür werben, eingefahrene Feindbilder und Ängste abzubauen. Dazu gehört auch die Zusicherung, dass der Gewalt oder gar der Drohung mit Vernichtung ausdrücklich abgeschworen wird.

Friedenserziehung in den christlichen Schulen

Wir wissen, dass eure christlichen Schulen viel dazu beitragen, der Jugend den Wert der Gewaltfreiheit zu vermitteln, Kreativität im zivilen Widerstand zu entwickeln sowie Formen und Methoden konstruktiver Konfliktbewältigung einzuüben. Wir nehmen dies auch dankbar auf, um den bei uns verbreiteten Vorurteilen gegen „die Palästinenser“ entgegen zu treten, die nachhaltig durch Terrorakte der Vergangenheit geprägt sind und auch gegenwärtig immer wieder durch Gewaltaktionen Bestätigung erfahren. Christen können nicht hinnehmen, wenn Gewalttäter und Mörder den Jugendlichen als Helden und Märtyrer oder als Vorbilder hingestellt werden.

Ja zur Erwählung des jüdischen Volkes– aber kein politischer Missbrauch

Wir haben gelernt, sensibel zu sein für alle Bedrohungen, denen Menschen jüdischen Glaubens ausgesetzt sind. Deswegen stehen wir zum biblischen Zeugnis der Ersterwählung und der Bundesverheißung für das jüdische Volk. Auch wenn wir – wie ihr in eurem Dokument – von dem universellen Segensauftrag Gottes für alle Menschen überzeugt sind, darf dies nicht missverständlich zur Aberkennung der bleibenden Bundestreue Gottes mit dem jüdischen Volk umgemünzt werden.

Auf der anderen Seite leiden wir daran, dass es im Staat Israel nationalistische religiöse Gruppen gibt, die die Bundesverheißung als Aufruf zum Landraub, ja sogar zur Vertreibung palästinensischer Bewohner missverstehen und missbrauchen. Wir sind überzeugt, dass solche Verhaltensweisen der Zukunft des israelischen Staates nachhaltig schaden. Deshalb wenden wir uns auch bei uns gegen jegliche christliche Theologie, die die Bibel in diesem Sinne entstellen. Wir stehen gemeinsam vor der Herausforderung, jeglicher biblisch-religiösen Legitimierung politischer Ansprüche oder gar von Übel und Gewalt argumentativ entgegen zu treten.

Ja zu Boykott – aber nur der Siedlungen

Wie sehen die Notwendigkeit von Maßnahmen gegen die israelische Politik der völkerrechtswidrigen Besiedlung palästinensischen Landes. Deswegen unterstützen wir euren Aufruf, Waren und wirtschaftliche Aktivitäten zu ächten, die unmittelbar aus illegalen Siedlungen stammen oder mittelbar die Besatzung fördern. Die ausdrücklich gegen die Besatzung gerichtete Signalwirkung verliert unseres Erachtens jedoch an Überzeugungskraft, wenn dies mit dem generellen Etikett „Boykott gegen Israel“ belegt wird.

Hilfreich für uns sind positive Signale der Kaufempfehlung palästinensischer Produkte und Empfehlung wirtschaftlicher Aktivitäten, die der Wohlfahrt der Menschen in Palästina zugute kommen. Bei uns ist noch viel Aufklärungsbedarf, welche Produkte und Wirtschaftsaktivitäten zu brandmarken und welche zu unterstützen sind.

Liebe Schwestern und Brüder,

wir vom Jerusalemverein unterstützen alle Bemühungen, die beiden Völkern im Heiligen Land – dem palästinensischen und dem jüdischen Volk – ein Zusammenleben in Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Frieden verschaffen können. Deshalb möchten wir als Jerusalemsverein die Gemeinschaft mit euch vertiefen und im ökumenischen Lernen nach neuen Wegen suchen. Wir danken euch für die Impulse dazu aus eurem Aufruf. In der zur Zeit hoffnungslosen Situation halten wir gemeinsam mit euch an der Hoffnung auf Gottes heilsames Wirken fest. Denn wir leben alle von der Verheißung des Auferstandenen: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

In herzlicher Verbundenheit

für den Jerusalemsverein (Berlin)

Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit, Vorsitzender

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