Mit dem Fahrrad von Nordfriesland nach Jerusalem

21.10.2024 | Andreas Schulz-Schönfeld berichtet von den ersten Wochen seiner Fahrrad-Pilgerreise nach Jerusalem quer durch Europa und die Türkei. Er erfuhr eine überwältigende Gastfreundschaft, besuchte bedeutende Stätten der Christenheit und erlebte vieles, das zum Nachdenken anregt.

Wie nah ist uns das Heilige Land?

Wenn ich ins Flugzeug steige, habe ich immer das Gefühl, das Ziel liegt weit weg. Dazwischen liegen Welten. Ich werde aber innerhalb weniger Stunden in eine andere Welt katapultiert, und genauso schnell bin ich wieder weg. Seit ich vor gut 30 Jahren in Jerusalem gelebt, gearbeitet und die Menschen dort lieben gelernt habe, habe ich diesen Sprung viele Male gemacht. Ich wollte aber gern einmal im Leben den Weg aus eigener Kraft bestreiten und mit dem Fahrrad reisen. Denn was ich mit dem Fahrrad erreichen kann, liegt gefühlt in meiner Nähe. Und die Nähe und Verbundenheit mit den Menschen in Israel und Palästina wollte ich gerade in dieser Zeit gerne ausdrücken.

Ein dreimonatiges Sabbatical gab mir nun die Gelegenheit, dies umzusetzen. So bin ich am 22. Juli von meinem Heimatort in Nordfriesland aufgebrochen, 30 km südlich der dänischen Grenze – nördlicher geht’s nicht. Das gab mir die Gelegenheit, mich auf flachem Gelände einzufahren, denn ich hatte vorher nicht weiter trainiert. Als erstes folgte ich der Elbe stromaufwärts. Das war eine interessante Erfahrung, da ich gebürtiger Hamburger bin. Ich habe dabei gemerkt, wie sehr die Zeitumstände die Perspektive prägen. Für mich als Kind und Jugendlicher ging die Elbe bestenfalls von Lauenburg bis zur Nordsee. Alles stromaufwärts lag hinter der Grenze der DDR. So habe ich jetzt die Städte und Bundesländer „erfahren“, die alle an der Elbe liegen. Oft konnte ich in Gemeinderäumen unterkommen. Manche Kirchen haben extra Pilgerzimmer. So sah ich die unterschiedlichsten Lebensbedingungen der Kirchengemeinden und den Einsatz meiner Kolleginnen und Kollegen in Gemeinden mit oft weit verstreuten Dörfern. Immer sonntags war mein Ruhetag und ich habe versucht, einen Gottesdienst zu besuchen. Dabei ergaben sich oft Gespräche über meine Fahrt und die Situation der Menschen im Heiligen Land.

Geplant hatte ich die Fahrt vor einem Jahr. Dann kam der 7. Oktober 2023. Und im Verlauf meiner Fahrt spitzte sich die Lage nach der Tötung hochrangiger Hamas-Führer und dem folgenden Raketenangriff des Iran immer mehr zu, sodass auch jetzt noch ungewiss ist, ob ich mein Ziel erreichen kann. Der komplette Landweg war ohnehin nicht möglich, da Syrien und der Libanon nicht passierbar sind. So war der Plan, bis in die Türkei nach Mersin zu radeln, dort eine Fähre nach Zypern zu nehmen und dann mit dem Flugzeug nach Jordanien oder Israel zu fliegen, und dann mit dem Fahrrad nach Jerusalem zu fahren. Auf diesem Weg bin ich auch gut vorangekommen durch Tschechien, Österreich, Ungarn, Serbien, Bulgarien, Griechenland bis in die Türkei. Nach sechs Wochen Fahrt hatte ich Istanbul erreicht. Ein paar Erkenntnisse, die ich unterwegs gewonnen habe, möchte ich teilen.

In Budapest habe ich die große Synagoge besucht, die größte Europas. Neben der Synagoge gibt es einen kleinen Garten, das Massengrab für Tausende ermordete Juden des Ghettos. Ich wusste nicht, dass in Ungarn auch eine faschistische Partei, die Pfeilkreuzler, regierten, die nicht weniger grausam waren als die Nazis. Und das, obwohl der Bau der Synagoge als Annäherung an Ungarn als Nation gedacht war. Und dann ganz anders: Sofia in Bulgarien. Das Land, das in seiner wechselvollen Geschichte immer wieder unter westlichem und östlichem Einfluss stand, hat den Menschen unterschiedlicher Religionen Raum gegeben. Man lebte als gute Nachbarn zusammen. Als Hitler Bulgarien als verbündeten Staat aufforderte, die Juden in die Konzentrationslager im Osten zu deportieren, gab es im ganzen Land Protest vom Parlament, den Kirchen, den Gewerkschaften, der Bevölkerung, sodass sich dem auch der Zar angeschlossen und immer neue Ausreden gefunden hat, um Deportationen hinauszuschieben. So ist nicht eine jüdische Person, die auf bulgarischem Staatsgebiet lebte, umgekommen! Heute heißt der Platz in Sofia, an dem Synagoge, Kirche und Moschee in Sichtweite liegen, Platz der Toleranz. Ein ermutigendes Beispiel. Wenn es in Bulgarien gehen konnte, warum nicht auch an anderen Orten und im Heiligen Land?

Ansonsten waren die Länder des Balkans, die ich durchfahren habe, in den Städten sehr westlich geprägt. Die Cafés und Restaurants waren abends voll, viele junge Menschen drängten sich auf den Straßen. Die Geschäfte und Drogerien hätten auch in jeder deutschen Stadt stehen können. Krass ist dagegen das Gefälle zwischen Stadt und Land. In den Dörfern waren viele Häuser verfallen und die Armut mit Händen zu greifen. Vor Augen steht mir die alte Frau, die eine Melone kaufen wollte. Der ausgezeichnete Preis war der Kilopreis, nicht der Preis für eine Melone. So legte sie sie schließlich wieder zurück.

Deutlich anders wurde meine Reise mit Erreichen der Türkei. In Istanbul fand ich Quartier in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde, die es dort seit 1843 gibt. Die Pogrome ab Mitte des 19. bis in die Hälfe des 20. Jahrhunderts gegen Christen mit dem Völkermord an den Armeniern bis zum Pogrom gegen die Griechen 1955 haben dazu geführt, dass es schätzungsweise nur noch 100.000 Christen in der Türkei gibt. In Istanbul ist ein guter Teil davon zu finden. Das ist traurig, gerade wenn man die Geschichte und Bedeutung der Christen auf dem Gebiet der Türkei bedenkt. Ich habe einige dieser bedeutsamen Orte besucht, deren Kirchen heute Museen (oder Moscheen) sind, wie beispielsweise Iznik, das frühere Nicäa, der Ort des ersten ökumenischen Konzils der Christenheit. Da ungewiss blieb, ob ich mein Ziel Jerusalem erreichen könnte, wollte ich mir die Klöster der Aramäer im Tur Abdin anschauen. Mein Weg führte dazu durch die zentralanatolische Hochebene. Hier verirrt sich nur selten ein Tourist hin.

Nachdem ich unweit eines Dorfes in einem Wadi gezeltet hatte und morgens meinen Weg fortsetzte, traf ich am Dorfeingang einen Vater mit seinem Sohn auf einem Trecker. Sie schauten mich ungläubig an, fragten sich, wo ich herkam und meinten zu mir, ich sei wohl im falschen Dorf. Immer wieder zog meine deutsche Fahne am Rad die Blicke auf sich, und oft fand sich jemand, der auf Deutsch erzählte, wie und wo er gearbeitet habe. Bewegt hat mich, dass viele nach Jahren in Deutschland wieder zurückgekehrt sind. „Hier ist mein Dorf, hier bin ich geboren“, hörte ich oft. Diese Heimatverbundenheit ist schön, zeigt aber auch, wie schmerzlich es ist, aus seiner Heimat vertrieben zu werden. Persönlich konnte ich eine überwältigende Gastfreundschaft erfahren. Oft hielt ein Auto neben mir und ich wurde gefragt, ob ich Wasser oder Essen bräuchte. Eine strenggläubige muslimische Familie hat mich aufgesammelt, mit dem Auto mitgenommen, mich zum Essen eingeladen und mir ein Nachtquartier gegeben. Endlich hatte ich in der Nähe von Mardin das erste Kloster Mor Zafaran erreicht. Hier wurde ich aufgenommen, konnte zwei Tage bleiben und den Sonntag mitfeiern. Dort lebt nur noch ein Mönch, der aber auch im Gottesdienst Unterstützung durch die Familie des Hausmeisters hat sowie durch aramäische Christen, die aus dem Ausland zu Besuch kommen, wie beispielsweise ein Vater mit seinem Sohn aus Paderborn. Der Vater war das erste Mal seit 40 Jahren wieder im Tur Abdin in seinem Heimatdorf und im Kloster. Es scheint sich in den letzten Jahren etwas geändert zu haben. Die aramäischen Christen fühlen sich jetzt sicherer und kommen zurück zu Besuch. Sie bemühen sich, ihr Land registrieren zu lassen, bauen neue Häuser in ihren Dörfern. Oft sind es nur wenige, die ganz hier leben, aber im Sommer kommen immer mehr für mehrere Monate und versuchen, ihre Dörfer wieder aufleben zu lassen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Ich selbst konnte die Gastfreundschaft einer aramäischen Familie erleben, die mich auch über Nacht beherbergt hat und mich kurzerhand mit zu dem Treffen der Dorfgemeinschaft genommen hat. Wenn sie nicht untereinander aramäisch gesprochen haben, kam ich mit Deutsch hier sehr weit. Denn ein Großteil der aramäischen Christen ist nach Deutschland, Schweden und die Benelux-Staaten ausgewandert. Der weitaus größere Teil der Gemeinschaft lebt heute im Ausland. Ein Schicksal, das wir von den Christen im Heiligen Land ebenso kennen. Und genauso passiert hier ein Traditionsverlust. Was durch 2000 Jahre gewachsen und bewahrt wurde, droht zu verschwinden. Noch spricht der alte Vater mit dem Sohn aramäisch. Aber dessen Kinder sprechen es schon nicht mehr so selbstverständlich in Deutschland. Über Mor Gabriel, dem wohl bekanntesten Kloster bin ich auch nach Mor Augin, dem für mich schönsten der Klöster gekommen und fand Aufnahme im Gästehaus in Nusseibin. Die Klöster und das Gästehaus haben eine große Bedeutung für die Aramäer, die zu Besuch kommen. Die Köster sind Identifikationspunkte, und sie geben Schutz. Wenn ich gefragt wurde, wohin ich weiterfahre, wurden die Mienen ganz besorgt. „Aber in der Gegend leben keine Christen. Wo wirst du unterkommen? Du bist nicht sicher.“ Daran wird deutlich, wie tief das Misstrauen aufgrund der erlebten Geschichte immer noch sitzt. Interessant war auch das große Interesse der türkischen Bevölkerung zu sehen. Täglich kamen Busladungen voll türkischer Touristen, die sich die Klöster anschauten.

Immer wieder fragten mich Menschen, ob ich sie nicht mitnehmen könne nach Deutschland oder sie erzählten von abgelehnten Arbeitsvisa. Der Wunsch, sich ein besseres Leben aufzubauen, ist groß. In der Gegend zwischen Urfa und Adana bekam ich noch anderes zu hören. Es gibt einen großen Sozialneid auf die Millionen syrischer und afghanischer Flüchtlinge gerade im Osten der Türkei, für die medizinische Versorgung und der Schulbesuch der Kinder kostenlos sind. Menschen mit staatlicher Rente wissen nicht, wie sie zurechtkommen sollen, fühlen sich vom Staat allein gelassen und empfinden die Leistungen für die Flüchtlinge als ungerecht. Auch fürchten selbst Muslime, dass statt Integration ihre Gesellschaft islamistischer werden könnte. Alles Debatten, die uns leider auch von Deutschland her vertraut sind.

Mein Weg führte mich zurück zur Mittelmeerküste. In Hattay, dem antiken Antiochia am Orontes, besuchte ich die vermutlich älteste Kirche unserer Christenheit. Und ich schaute mir die jüngsten Wunden an, die das Erdbeben vor zwei Jahren geschlagen hat. 50.000 Menschen sind dabei umgekommen. Fast jeder, den ich gesprochen habe, hat Angehörige verloren. Viele Kinder sind traumatisiert. Obwohl die Baumaschinen Tag und Nach rattern, liegen immer noch große Flächen der Stadt unter Trümmern, leben Menschen in Containerdörfern. Eine unglaubliche Staubwolke schwebt über der Stadt. Wie muss es in Gaza aussehen, wo 80 Prozent aller Gebäude zerstört sind? Wie lange wird es dauern, dort wieder etwas aufzubauen?

Auch wenn ich nicht weiß, ob ich das Heilige Land am Ende erreichen werde, so hat mich meine Reise doch immer wieder an die Themen geführt, die auch dort bestimmend sind. Wie kann ein dauerhaft friedliches Leben für Israelis und Palästinenser mit den umliegenden Nachbarn gelingen? Wie können Perspektiven geschaffen werden, damit die Christen bleiben und die Kirchen dort keine Museen werden, wie in der Türkei. Was muss unsere Aufgabe dabei sein? Denn – das Heilige Land ist nicht weit weg. Es liegt nur einen Fahrradweg entfernt.

Andreas Schulz-Schönfeld
Vertrauenspastor des Jerusalemsvereins in der Nordkirche