20.02.2023 |Die Ökumenische Freiwillige Leandra Charbonnier berichtet über ihren Alltag in der evangelischen Schule in Beit Sahour (Palästina).
Ganz viele Menschen, die mich willkommen heißen, die viel gestikulieren, für mich unverständlich auf Arabisch reden und mir ihre Namen sagen, an die ich mich später aber nicht erinnern kann – das ist mein erster Eindruck des Lehrerzimmers an der Evangelisch-Lutherischen Schule in Beit Sahour. Und trotz allem, was ungewohnt ist, fühle ich mich sofort sehr herzlich aufgenommen. Von dieser Atmosphäre hatte mir auch schon unser Taxifahrer Khaled erzählt, bevor ich überhaupt meinen ersten Tag an der Schule verbrachte: „Die Lehrer dort sind wie eine Familie.“, sagte er.
Nach den fünf Monaten, die ich nun bereits hier bin, kann ich das nur bestätigen: Im Lehrerzimmer wird viel gescherzt, Kaffee getrunken, gemeinsam Süßes gegessen, aber auch über ernste Themen diskutiert. Viele Lehrer:innen kennen sich schon lange, sind teilweise miteinander verwandt und schon selbst hier zur Schule gegangen. Der stellvertretende Schulleiter etwa, der nächstes Jahr in Rente geht, ist an dieser Schule, seit er mit 5 Jahren in den Kindergarten gekommen ist.
Aber natürlich bin ich nicht nur hier, um mit den Lehrer:innen Zeit zu verbringen, sondern habe meine Aufgaben als Freiwillige: Grundsätzlich soll ich den Deutschunterricht unterstützen, denn die Schule ist eine der wenigen in Palästina, die Deutsch unterrichten. Dafür gibt es drei palästinensische Deutschlehrer:innen. Das ist keinesfalls selbstverständlich, denn es ist mitunter ein großes Problem, genügend Lehrkräfte für dieses Fach zu finden. Meine Hauptaufgabe liegt darin, Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, die neu an die Schule gekommen sind und keine Deutschkenntnisse haben. Diese versuche ich im Einzel- oder Zweierunterricht auf den Stand der Klasse zu bringen, damit sie im nächsten Jahr am normalen Deutschunterricht teilnehmen können. Darüber hinaus begleite ich den Deutschlehrer in der dritten Klasse, denn die besteht aus 36 Kindern. Da sind zwei Personen manchmal ganz praktisch. Abgesehen davon bin ich die mehr oder weniger offizielle Schulfotografin und darf nun bei allen größeren Aktionen, oder wann immer es sonst gebraucht wird, Bilder machen, die dann unter anderem auf dem Facebook-Account der Schule mit den Eltern geteilt werden.
Bevor ich mit dieser Arbeit anfange, beginnt der Schultag meist recht entspannt: Nach dem ersten arabischen Kaffee im Lehrerzimmer geht es zur Morgenversammlung. Um 7:30 Uhr treffen sich alle Schüler und Schülerinnen auf dem Pausenhof, singen gemeinsam die Nationalhymne und beten das Vaterunser. Danach gibt es entweder das „Morgenradio“ oder eine kurze Andacht in der Kirche, die sich auf dem Schulgelände befindet. In der Andacht wird gesungen und ein Lehrer, eine Lehrerin oder der Pastor der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde predigt. Beim Morgenradio sind die Schüler:innen selbst an der Reihe: Sie stellen eigene Texte und im Unterricht Gelerntes vor, geben schauspielerische und musikalische Darbietungen oder leiten Sportübungen an.
Nach diesem gemeinsamen Start in den Tag beginnt der Unterricht. Dabei haben die Kinder viele Fächer, die es in Deutschland auch gibt, mit dem Unterschied, dass etwa die Naturwissenschaften oder Gesellschaftswissenschaften bis zu den höheren Jahrgängen in jeweils einem Fach zusammengefasst werden. Außerdem gibt es zum Beispiel ein eigenes Unterrichtsfach „Technologie“ und auf freiwilliger Basis wird „Robotics“ angeboten.
Das ist aber nicht die einzige freiwillige Aktivität. Wie mir die Schulleiterin Georgette Hazboun erklärte, legt die Schule sehr großen Wert darauf, möglichst viele Freizeitaktivitäten und weiterführende Bildungsangebote anzubieten, da diese außerhalb der Schule oft schwierig zu finden sind. So können die Schüler:innen zum Beispiel im Chor singen, den traditionellen und sehr beliebten palästinensischen Tanz Dabkeh trainieren oder bei Brass for Peace ein Blechblasinstrument lernen. Aber auch Projekte, die die Schüler:innen für politische und gesellschaftliche Themen sensibilisieren sollen, kommen nicht zu kurz: Bei den Model United Nations diskutieren sie über politische Probleme und lernen dabei, verschiedene Blickwinkel einzunehmen und Meinungen zu präsentieren. Im Leadership Programm können sie über drei Jahre hinweg verschiedene Fähigkeiten ausbauen, die ihnen dabei helfen werden, Führungsrollen zu übernehmen und für sich und andere einzustehen. Aber es gibt auch Projekte, um ganz direkt die eigene Umgebung zu verbessern. Im Umweltclub sorgen die Kinder dafür, dass das Schulgelände sauber bleibt und grün wird, im Schülerrat können sie eigene Projekte umsetzen, und in einem für Palästina einzigartigen Programm arbeiten die Elftklässler:innen ehrenamtlich in gemeinnützigen Projekten in der Region.
Ich finde all das sehr beeindruckend und sehe, wie die Schule sich bemüht, einen Gegenpol zu den Schwierigkeiten zu bilden, die die Schüler:innen im Alltag häufig erleben. So wie ich es wahrnehme, gelingt es ihr, eine familiäre und unterstützende Schulgemeinschaft zu schaffen, in der die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit haben, ganz verschiedene Seiten und Fähigkeiten an sich zu entdecken. Sie erhalten eine gute Bildung, die ihnen neue Wege in der Zukunft eröffnet. Ich freue mich sehr, daran teilzuhaben und mitwirken zu können.
Die Evangelisch-Lutherische Schule in Beit Sahour (ELS) wurde 1901 von deutschen Missionaren in Zusammenarbeit mit lokalen Mitgliedern der Kirche gegründet und ist damit die zweitälteste Schule in Beit Sahour. Heute hat sie ca. 450 Schüler:innen und 33 Lehrer:innen. Ein besonderer Fokus ist die individuelle Entwicklung der Kinder und das gemeinsame Lernen von Muslimen und Christen sowie Jungen und Mädchen (staatliche Schulen sind im Gegensatz dazu geschlechtergetrennt). Sie bietet, wie die meisten Privatschulen in Palästina, durchgehende Bildung vom Kindergarten bis zum palästinensischen Abschluss Tawjihi nach 12 Jahren.