Gaza: Welches Ausmaß hat die humanitäre Krise?

31.05.2024 | Der Terror-Angriff der Hamas auf Israel hat die Gewaltspirale im Nahen Osten weitergedreht. 130 israelische Geiseln warten noch immer auf ihre Befreiung. Gaza ist großflächig durch Luft- und Bodenangriffe zerstört worden. Es mangelt an allem. Nur die gefährliche Arbeit der Hilfsorganisationen verhindert ein völliges Ausufern der Not.

Wie zu beinahe allen Teilaspekten des Nahostkonflikts gibt es auch bei der Einschätzung der Situation in Gaza zwei unterschiedliche Narrative. Die israelische Regierung und das Militär betonen, dass bei der Militäroperation „Swords of Iron“ gezielt gegen die Hamas vorgegangen wird, Zivilisten soweit wie möglich geschont werden und die internationale Nothilfe effektiv abgewickelt wird. Eine Hungersnot gebe es nicht. Viele Medien, NGOs und UN-Organisationen berichten von den über 36.000 getöteten Menschen – mehrheitlich Frauen und Kinder –, weitgehenden Zerstörungen der Wohnhäuser und der Infrastruktur, Blockaden der Hilfslieferungen sowie Angriffen auf humanitäre Hilfsaktionen. Sie sprechen von einer Hungerkrise, die sich zu einer Katastrophe mit vielen Toten entwickeln kann. Dies wird sogar mit dem Vorwurf verbunden, diese Situation sei bewusst herbeigeführt worden.

Schon vor dem Krieg war der extrem dicht besiedelte Gazastreifen von Nahrungsmittelhilfen und -importen abhängig, der Bedarf lag etwa bei täglich 4000 t. Nach offiziellen israelischen Zahlen durften zwischen Kriegsbeginn und dem 22. Mai 2024 täglich 1942 t Nahrungsmittel nach Gaza passieren, am 22. Mai deutlich mehr: 5125 t. Vor allem von Oktober bis Dezember kamen viel zu wenig Nahrungsmittel in Gaza an, weil die Grenzübergänge ganz geschlossen oder nur wenige Lastwagen durchgelassen wurden. Diese Nahrungsmittelknappheit wurde durch den kriegsbedingten Wegfall eigener landwirtschaftlicher Ressourcen verschärft. 42,6 Prozent der Felder und 26,6 Prozent der Gewächshäuser wurden beschädigt, 60 bis 70 Prozent der Nutztiere wurden getötet oder mussten notgeschlachtet werden, Fischerboote wurden zerstört.

Die Verteilung der Nahrungsmittel, die durch die Grenzübergänge kommen, ist für die Hilfsorganisationen vor Ort schwierig und gefährlich, weil Straßen zerstört wurden, die israelischen Behörden Passagen verweigern, das Militär auch Hilfstransporte angreift oder gewaltsam bei der Verteilung der Lebensmittel interveniert. Der Beschuss eines Konvois von World Central Kitchen, dessen Passage durch das israelische Militär genehmigt wurde, forderte Anfang April sieben Todesopfer. Insgesamt wurden mehr als 200 Mitarbeitende von Hilfsorganisationen in dem Krieg gewaltsam getötet, größtenteils Ortskräfte. Am 29. Februar starben mehr als hundert Menschen (nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums), als beim Eintreffen einer Hilfslieferung im Norden Schüsse fielen und unter der wartenden Menschenmenge Panik ausbrach. Der genaue Hergang ist umstritten. Der Norden Gazas war zuvor einen Monat lang komplett abgeriegelt, was die humanitäre Situation dort extrem verschärft hat. Es ist fraglich, ob unter diesen Bedingungen die Nahrungsmittel gerade auch diejenigen erreichen, die sie am nötigsten brauchen wie Hungernde, Waisen, Kranke und Verletzte.

Das von der Welternährungsorganisation FAO entwickelte Programm Integrated Food Security Phase Classification (IPC) wertet weltweite Daten zur Ernährungssicherheit aus und prognostiziert die weitere Entwicklung. Für Gaza schlägt IPC Alarm. Alle Bewohner sind mindestens in der IPC-Phase 3, die als Hungerkrise bezeichnet wird, die Hälfte in Phase 5, einer katastrophalen Hungersnot mit extremer Unterernährung und Hungertoten. „Bezogen auf die absoluten Zahlen beobachten wir das höchste Hungerniveau in der Welt“, sagt Matthew Hollingworth vom World Food Programme (WFP). „Das ist alles menschengemacht. Es ist schockierend, wie schnell sich die Lage verschlechtert hat.“ Zu dieser Einschätzung der Ernährungsunsicherheit in Gaza passen Augenzeugenberichte in den Medien, die die verzweifelte Suche von Menschen nach Lebensmitteln und völlig abgemagerte Kinder und Erwachsene erwähnen. Nader Abu Amsha, Direktor der Diakonie des nahöstlichen Kirchenrates (DSPR-NECC), berichtet in einer Veröffentlichung des ÖRK: „Die Situation im Norden Gazas … ist wirklich katastrophal … Die Menschen essen alles, was sie finden können – sie essen Gras und Blätter von Bäumen … Wir haben die Angriffe israelischer Panzer auf Gruppen von Menschen erlebt, die auf die Verteilung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern gewartet haben.“

Dem großen Bedarf an ärztlicher und medizinischer Versorgung aufgrund von Verletzungen und stark grassierenden Infektionskrankheiten steht in Gaza ein weitgehend kollabiertes Gesundheitssystem gegenüber. 21 Krankenhäuser sind außer Betrieb, 15 können nur mit Einschränkungen betrieben werden. 60 von 93 Gesundheitszentren sind zerstört oder mussten den Betrieb aufgeben. Die für das Gesundheitssystem bedeutenden Krankenhäuser Al-Shifa und Nasser mussten vor israelischen Militäreinsätzen evakuiert werden, bei denen beide Hospitäler verwüstet wurden. Später wurden Massengräber mit insgesamt mehr als 300 Leichen entdeckt. Nach UN-Angaben waren unter den Toten Frauen und Senioren, einige Leichen waren an den Händen gefesselt. Das israelische Militär gibt an, das sich die Hamas in Tunnelsystemen unter Krankenhäusern und in den Einrichtungen selbst versteckt. Der Hohe Kommissar der UN für Menschenrechte spricht von „systematischen Angriffen der israelischen Streitkräfte auf lebenswichtige zivile Infrastruktur im Gazastreifen, insbesondere auf Krankenhäuser“.

Das christliche Al-Ahli Arab Hospital war im Frühjahr das einzige offene Krankenhaus in Nordgaza. In der Umgebung des Krankenhauses im Viertel Al-Zeitoun hat es zahlreiche israelische Militäroperationen und Bombeneinschläge gegeben. Am 17. Oktober starben bei einer katastrophalen Explosion auf dem Krankenhausgelände, die wahrscheinlich von einer fehlgeleiteten Rakete einer Miliz aus Gaza verursacht wurde, viele Menschen (die Zahl ist stark umstritten). Alle Räume im Hospital, so z. B. auch die Bibliothek oder der Andachtsraum, sind mit Patientinnen und Patienten überfüllt. Seit Kriegsbeginn gibt es im gesamten Gazastreifen keinen Strom über das Netz, und der Treibstoff für Generatoren ist aufgebraucht. Die Solaranlage des Krankenhauses kann den Strombedarf nicht annähernd decken. Aber das medizinische Personal arbeitet unermüdlich weiter, sowohl im Krankenhaus als auch darüber hinaus: Anfang April 2024 haben Mitarbeitende des Krankenhauses, die Ende letzten Jahres durch israelische Militäroperationen in Gaza-Stadt vertrieben wurden, in Rafah eine Klinik eingerichtet.

Die Diakonie des nahöstlichen Kirchenrates (DSPR-NECC) berichtet, dass ihre Mutter-Kind-Klinik in Al-Daraj durch Bombardierungen völlig zerstört wurde und die Klinik in Al-Shijaiah geschlossen werden musste. Die Diakonie ist noch mit mobilen Teams aktiv, die in Flüchtlingscamps psychosoziale Beratung von Müttern und Spielgruppen für Kinder anbieten, und mit der verbliebenen Mutter-Kind-Klinik in Rafah. Dabei ist der Bedarf an Geburtshilfe und Säuglingsfürsorge mit geschätzt 50.000 schwangeren Frauen im Gazastreifen sehr groß. Viele müssen nun unter widrigen, unsterilen Bedingungen und ohne medizinische Betreuung entbinden.

Nach Beginn der israelischen Militäroffensive im Mai in Rafah gibt es Berichte von Krankenhausschließungen, wie im Fall des Abu Yousef al-Najjar Krankenhauses, das evakuiert werden musste. Dr. Subhi Sukeyk, der die Krebsbehandlungen in Rafah koordiniert sagte zum Guardian: „Die Situation ist sehr schlecht. Wir versuchen jetzt, von einem sehr kleinen Feldkrankenhaus aus mit sehr begrenzten Mitteln zu arbeiten … Wir bekommen keine Krebsmedikamente und haben deshalb viele Patienten verloren.“

Ende Mai gibt es für die Zivilbevölkerung Gazas neben dem dunklen Schatten, den die israelische Offensive in Rafah wirft, auch einige Hoffnungsschimmer: Aus Israel wird nach einer langen Unterbrechung wieder Trinkwasser nach Gaza geleitet, und zwei eigene Wasseraufbereitungsanlagen arbeiten zumindest eingeschränkt. Hilfslieferungen kommen wieder sowohl aus dem Norden über Erez als auch aus dem Süden über Rafah. Der von den USA errichtete provisorische Hafen ist in Betrieb, wenn auch dessen Kapazität bei weitem noch nicht genutzt wird. Vielleicht können diese Maßnahmen das Schlimmste verhindern.

Dieser Beitrag wird in der Ausgabe 2/2024 unserer Zeitschrift „Im Lande der Bibel“ abgedruckt, die im Juni 2024 erscheint.

Titelbild: Kinder im Flüchtlingslager Rafah stehen für Wasser an, das eine palästinensische Jugendgruppe verteilt. © Ismael Abu Dayyah/UNOCHA

Quellen und Links:

Eine detaillierte und regelmäßig aktualisierte Übersicht über die humanitäre Situation in Gaza bieten die Schautafeln unter dem Titel „Hostilities in the Gaza Strip and Israel – reported impact“ des OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs)
Aktueller Report (Stand: 29.05.2024)
https://www.ochaopt.org/content/hostilities-gaza-strip-and-israel-reported-impact-day-236
Übersicht der Reports
https://www.ochaopt.org

Detaillierte Landkarte von Gaza (Stand: September 2023)
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:OCHA_OpT_September_2023_map_of_the_Gaza_Strip.pdf

Aktuelle Zahlen der israelischen Regierung über die Nothilfe in Gaza (COGAT-Behörde)
https://govextra.gov.il/cogat/humanitarian-efforts/home

Hunger as a Weapon – Humanitarian Access for Aid Deliveries to Gaza. Aufgezeichnetes Webinar der Heinrich-Böll-Stiftung, 11. April 2024
https://www.youtube.com/watch?v=w3KWBKvwS6E
Simultanübersetzung: „Hunger als Waffe“
https://www.youtube.com/watch?v=Lr8ElUFcC2Y

Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) erfasst die weltweiten Ernährungsunsicherheiten.
https://www.ipcinfo.org

Hunger in Gaza: Famine findings a ‘dark mark’ on the world, says WFP Palestine country director. In: WFP, 18. März 2024
https://www.wfp.org/stories/hunger-gaza-famine-findings-dark-mark-world-says-wfp-palestine-country-director

COGAT: Int’l orgs told us too much aid was sent to northern Gaza. In: The Jerusalem Post, 5. Mai 2024
https://www.jpost.com/israel-hamas-war/article-799987

Israel and U.N. disagree over Gaza aid figures. In: Reuters, 10. April 2024
https://www.reuters.com/world/middle-east/israel-un-disagree-over-gaza-aid-figures-2024-04-10

Die FAO dokumentiert die landwirtschaftlichen Kriegsschäden. On the ground in Gaza, In: FAO
https://www.fao.org/in-focus/gaza/en

Tote Helfer im Gazastreifen. Internationale Rufe nach Aufklärung. In: tagesschau, 2. April 2024
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/nahost-israel-luftangriff-hilfsorganisation-100.html

Dying for a bag of flour: Videos and eyewitness accounts cast doubt on Israel’s timeline of deadly Gaza aid delivery. In: CNN, 10. April 2024
https://edition.cnn.com/2024/04/09/middleeast/gaza-food-aid-convoy-deaths-eyewitness-intl-investigation-cmd/index.html

Warum der Mangel in Gaza besonders Mütter trifft. In: tagesschau, 8. März 2024
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/frauen-gaza-israel-100.html

UN Human Rights concerned by pattern of Israeli raids on Gaza medical facilities. In: United Nations – Office of the High Commissioner for Human Rights, 15. Februar 2024
https://www.ohchr.org/en/statements-and-speeches/2024/02/un-human-rights-concerned-pattern-israeli-raids-gaza-medical-facilities

Mass graves in Gaza show victims’ hands were tied, says UN rights office. In: United Nations, 23. April 2024
https://news.un.org/en/story/2024/04/1148876

Ärzte ohne Grenzen haben den Militäreinsatz im Nasser Hospital detailliert dokumentiert: How the Israeli army besieged and attacked Nasser hospital (3. April 2024)
https://www.msf.org/gaza-how-israeli-army-besieged-and-attacked-nasser-hospital

Is Hamas hiding in Gaza’s main hospital? Israel’s claim is now a focal point in a dayslong stalemate. In: AP, 14. November 2024
https://apnews.com/article/israel-palestinians-hamas-war-shifa-hospital-ce8fda9821a011a6cb6e4a3df5c90916

Six months of war leave Al-Shifa hospital in ruins, WHO mission reports. In: WHO, 6. April 2024
https://www.who.int/news/item/06-04-2024-six-months-of-war-leave-al-shifa-hospital-in-ruins–who-mission-reports

Rafah hospitals in danger of being overwhelmed, say Gaza doctors. In: The Guardian, 9. Mai 2024
https://www.theguardian.com/world/article/2024/may/08/rafah-hospitals-in-danger-of-being-overwhelmed-say-gaza-doctors

As Rafah Offensive Grinds On, Hunger in Gaza Spirals. In: The New York Times, 24. Mai 2024
https://www.nytimes.com/2024/05/24/world/middleeast/rafah-gaza-aid-hunger.html

Gaza: Findings on October 17 al-Ahli Hospital Explosion. In: Human Rights Watch, 26. November 2023
https://www.hrw.org/news/2023/11/26/gaza-findings-october-17-al-ahli-hospital-explosion

Wissenschaftler: Dramatische Wasser-Unterversorgung im Gaza-Streifen. In: Sonntagsblatt, 9. April 2024
https://www.sonntagsblatt.de/artikel/gesellschaft/wissenschaftler-dramatische-wasser-unterversorgung-im-gaza-streifen