15.01.2024 | Die Friedensvermittlerin und Buchautorin Sumaya Farhat-Naser erinnert an Kraftquellen und Ressourcen der Hoffnung und ermutigt, aktiv den Frieden zu suchen.
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens (Lukas 2,14)
Im Krieg werden Menschen getötet und Lebensgrundlagen zerstört. Würde und Respekt gelten kaum noch, die Menschlichkeit geht verloren. Was bei uns im Heiligen Land geschieht, übersteigt den Menschenverstand. Beide Völker – Israelis wie Palästinenser – verlieren Moral, Ideale, Glauben und Humanität. Gerade jetzt dürfen wir nicht nachlassen. Wir müssen dranbleiben, um die Schwachen zu stärken und die Leidenden vor dem Zerbrechen zu bewahren. Es gibt so viele irrige Ansichten und Vorurteile. Viele hören auf, die Menschen wahrzunehmen, die sich auf beiden Seiten weiter für Frieden einsetzen. Es ist so schwer wie nie zuvor, und es wird noch schwerer und brutaler. Wir dürfen uns jedoch an diese anormale Situation nie gewöhnen.
Oft nehme ich mir vor zu schreiben. Doch die Hände sind wie gelähmt. Wir sind in höchster Alarmbereitschaft. Jede Minute fürchten wir, es werde Schlimmes und noch Schlimmeres kommen. Was in Gaza geschieht und wie die Kriegsführung auf allen Ebenen stattfindet, übersteigt unseren Verstand. Die Verschleppten und Gefangenen aus Israel leben seit einem Jahr in Todesangst, Tausende starben. Die Sprache ist grausam und giftig geworden, jede Scheu wird abgelegt, Empörung darüber bleibt aus. Wir dürfen uns davon nicht beirren lassen. Wir wissen, was wir wollen, und kennen unsere Ziele. Wir wollen überleben und müssen durchhalten, denn wir lieben das Leben und ehren die Menschlichkeit. Wir wollen das Gute für alle.
Wir leben ständig in Angst und in Trauer, bedingt durch das Leiden der Menschen in Gaza und überall. In Gaza sind mehr als 40.000 Menschen getötet worden, mehr als 80.000 wurden verletzt. Hunderttausende sind ständig auf der Flucht. Hunger, Durst und Krankheiten plagen die Menschen. Wir haben viele Freunde und Bekannte in Gaza verloren – Kollegen, Freunde und viele unserer früheren Studenten. Millionen Menschen trauern in Palästina und Israel um ihre Toten und fürchten um ihre verschleppten oder gefangenen Angehörigen. Ein Waffenstillstand muss sofort kommen. Friedensgespräche müssen eingeleitet werden. Wir müssen uns darauf einigen, dass alle Menschen gleiche Rechte haben.
Die Situation in der Westbank
Auch in der Westbank gibt es täglich Konfrontationen. Ganze Stadtteile in Nablus, Jenin, Tulkarem und im Gebiet von Hebron sind zerstört worden. Seit Kriegsbeginn sind mehr als 900 Tote und hunderte Schwerverletzte in der Westbank gemeldet worden. Die Gesamtzahl der Gefangenen übersteigt 21.000. Es gibt Berichte über Folter und Gewalt gegen Frauen. Dennoch dürfen wir nicht aufgeben. Wir helfen einander, sammeln und verteilen, trösten, stärken und unterstützen einander. Viele brauchen Unterstützung, weil sie nicht einmal das Nötigste haben. Wir stützen uns auf unseren Glauben.
In den Sommermonaten kommen viele Familien aus dem Ausland zu Besuch. Wirtschaftliches und Erbangelegenheiten müssen geregelt werden. Nebenbei lernen sich junge Leute kennen, Freundschaften entstehen und viele davon führen zu Hochzeiten. Es findet alle paar Tage eine Hochzeit statt. Aus Respekt gegenüber den vielen Trauernden und den Opfern des Krieges gibt es keine langen Hochzeitszüge. Aber 500 Meter vor der Kirche wird getanzt und gesungen, kraftvoll und schön. Alle lachen und freuen sich. Freude und Trauer sind wie Leben und Tod. Sie gehören zu unserem Dasein. Wir trotzen dem Krieg und dem Leiden. Wir lachen und freuen uns, denn das ist unser Recht. Wir tragen gemeinsam Leid und Freude. Das tut gut.
Meine Arbeit mit Jugendlichen und Frauen geht weiter, trotz Bewegungseinschränkungen und Gefahren. Wir haben Workshops und Gespräche geführt in Schulen und Frauengruppen. Uns beschäftigen die Fragen: Wie stärken wir uns und halten unsere Psyche gesund? Wie befähigen wir uns, für andere da zu sein?
Wie sprechen wir über den Krieg mit Kindern? Wie schützen wir sie vor dem Zerbrechen? Wie gehen wir mit Traurigkeit, Wut und Ängsten um?
Wir erlernen Kommunikationsfähigkeiten. Wir lernen zuzuhören, zu fragen, zu verstehen, mit Respekt zu antworten und nachzufassen. Wir erlernen Stressabbau und Umgang mit Provokationen, Verletzungen und Diskriminierung. Wir erlernen Gewaltfreiheit und Konfliktmanagement.
Traumata werden Generationen begleiten
Die Auswirkung des Krieges auf die Menschen, vor allem auf die Kinder, ist unermesslich schädlich. Traumata und psychische Schäden werden Generationen begleiten. Das wird die Menschen in Israel und Palästina gleichermaßen treffen, auch die Gefangenen, die Kämpfer, die Soldaten. Die Giftsprache, die unsere beiden Völker befallen hat, muss gereinigt werden. Parolen wie „Kill them all!“, „Alle vernichten!“, oder „Sie sind menschliche Tiere!“, dürfen niemals zugelassen oder gebraucht werden, auch keine religiösen Rechtfertigungen für Rache, Tötungen und Ausgrenzung. Wir dürfen niemals unsere Menschlichkeit verlieren. Unser Konflikt ist politisch und keineswegs religiös. Alle Religionen haben die gleichen Ideale und Werte, und sie dienen der Menschlichkeit und dem Frieden.
Israelische Journalisten, Buchautorinnen und Gelehrte wie Gideon Levy, Ilan Pappe, Amira Hass und Nurit Peled-Elhanan, die ehrlich und aufrichtig schreiben, Bericht erstatten und sich für den Frieden zwischen unseren beiden Völkern einsetzen, geben uns Hoffnung, und wir lernen zu differenzieren. Wir müssen sie wahrnehmen und wir schätzen es sehr, dass es sie gibt. Wir müssen gemeinsam arbeiten und uns engagieren. Es ist wichtig, unsere Geschichte auf der menschlichen Ebene darzustellen, achtsam zu sein und die richtigen Worte zu finden. So gewinnen wir uns gegenseitig. So überleben wir alle.
Wir atmen auf, fühlen uns beruhigt, erkennen unsere Pflicht gegenüber uns selbst. Unsere Aufgabe ist, niemals die Hoffnung aufzugeben. Das tut allen gut und ermutigt, aktiv zu sein. Ich glaube an ein Wunder, es wird geschehen!



Bildung zum Frieden – eine Übung zur Selbststärkung und Selbstführung
Durch das Geschehen des Krieges fühle ich mich gelöscht. Ich kann die Nachrichten und die grausamen Bilder weder hören noch sehen. Das lähmt meinen Körper und vergiftet meine Seele.
Ich übe Gedanken-Hygiene. Wenn negative Gedanken mich stören, irritieren, traurig machen, mich entkräften, muss ich „Stopp!“ sagen, sie nicht auf mich wirken lassen. Ich weigere mich sie zuzulassen. Ich muss mich schonen, nicht hinschauen, nicht hinhören.
Positive Gedanken, die mich beruhigen und mich erfreuen – ich hole sie aus meiner Schatztruhe heraus, wieder und wieder, und sage mir: „Bravo!“, danke, dass es sie gibt.
Ich übe Seelen-Hygiene, um meine Lebensenergie zu erneuern. Ich muss achtgeben auf meine Psyche, andernfalls kann ich nicht meine Aufgaben erfüllen und meinen Verpflichtungen gegenüber meiner Familie und meinen Mitmenschen nachkommen. Ich pflege die Verbundenheit mit der Familie und den Freunden. Das trägt und tröstet mich.
Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Ich suche mir einen Ort des Friedens, wo ich meine Kraft erneuere, meine Freude am Leben wieder finde. Ich betrachte die Natur, Quelle der Kraft und Freude. Ich atme ihre Gerüche, bewundere ihre Schönheit und danke für die Weisheit und Kraft der Schöpfung. Ich fühle bewusst die Wirkung, die uns verbindet. Ich atme auf, ich bin erleichtert. Ich freu mich.
Ich übe Seelen-Pflege. Das kann durch Gebet, Meditation, Besinnung geschehen, oder dadurch, dass ich mir etwas gönne, was mir Freude bereitet. Ich konzentriere mich auf mein Herz. Ich mache Atemübungen, treibe Sport, gehe Spazieren, suche nach Freude. Ich schöpfe Kraft und Stärke von den Menschen in Gaza, die durchhalten und stets dankbar sind für jedes bisschen, was sie noch haben oder bekommen. Sie sind Menschen. Alle sind Menschen.
Ich weine vor Rührung. Ihren Respekt für das Leben und für die Würde, ihre Liebe, Standhaftigkeit, gegenseitige Unterstützung bewundere ich. Ich lerne von ihnen. Sie motivieren mich aktiv zu werden. Sie lehren mich, dass es möglich ist, Mensch zu sein.
Wir alle sind Menschen! Wir müssen Geduld haben und dranbleiben. Wir ermutigen uns durch Palästinenser und Israelis, die gemeinsam einen neuen Weg suchen, wie die Gruppe „Standing Together“ in Haifa. Sie stehen für einen gemeinsamen Staat, der jedem seiner Bürger gehört, demokratisch ist und Gleichberechtigung in allen Bereichen ermöglicht.
Wir ermutigen uns durch alle Israelis und Palästinenser, die den Krieg ablehnen, die Feindseligkeit abbauen.
Wir glauben, dass Frieden möglich sein muss. Frieden muss gewollt und ermöglicht werden. Denn nur Frieden sichert die Sicherheit für alle.
Alle sind Menschen!
Sumaya Farhat-Naser
Der Text ist in der Ausgabe 3/2024 der Zeitschrift „Im Lande der Bibel“ erschienen.