Vergesst die Christen im Westjordanland nicht!

14.05.2024 | Eine Delegation des Jerusalemsverein-Vorstands hat Ende April der Partnerkirche ELCJHL einen Solidaritätsbesuch abgestattet. Sie konnte beobachten, dass sich die Lebenssituation der Palästinenser in der Westbank schlagartig verschlechtert hat.

Seit 171 Jahren begleitet der Jerusalemsverein christliches Leben im Heiligen Land und seit vielen Jahren leben wir eine lebendige Partnerschaft mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und dem Heiligen Land (ELCJHL). Wir stehen für eine doppelte Solidarität mit den Menschen in Israel und Palästina. Erschreckend schwer und bedrückend ist das Leben seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober  für die Menschen in Israel, die immer noch auf die Rückkehr von etwa 130 Geiseln warten. Die Menschen in Gaza leiden durch den Krieg unter einer humanitären Katastrophe. Aber auch die Lebenssituation der Palästinenser in der Westbank hat sich schlagartig verschlechtert. Dies erfuhren wir während einer sechstägigen Solidaritätsreise Ende April. Für uns heißt Solidarität, auch in schweren Zeiten unseren Partnern zur Seite zu stehen.

Unter der Leitung des Vorsitzenden, Oberkirchenrat Wolfgang Schmidt, waren Bischof i. R. Dr. Hans-Jürgen Abromeit, die Pastoren Jonathan Schmidt und Wolf-Eckhard Miethke und ich in Jerusalem und der Westbank unterwegs. Ibrahim Azar, Bischof der ELCJHL, hatte für uns ein umfangreiches Besuchsprogramm ausgearbeitet: Wir nahmen an Gottesdiensten teil, besuchten evangelische Kirchengemeinden und Schulen, tauschten uns mit Repräsentanten anderer Kirchen aus und führten Gespräche mit dem Deutschen Vertretungsbüro in Ramallah sowie dem Bürgermeister von Bethlehem.

Wir wurden sehr herzlich aufgenommen – die palästinensische Gastfreundschaft war wie immer großartig. Das ist aber so ziemlich das Einzige, das sich in den letzten Monaten nicht geändert hat. Anstelle von Stärke, Hoffnung, Humor und Kreativität, wie sonst bei unseren Besuchen, begegneten wir diesmal vielen traumatisierten Menschen, einer bleiernen Schwere aus Existenzängsten sowie dem Gefühl der permanenten Bedrohung. Dazu kam das Empfinden, von der Weltöffentlichkeit vergessen worden zu sein. Wir mussten feststellen: Ein normales Leben ist für die Menschen in der Westbank derzeit nicht möglich.

Die wirtschaftliche Situation ist desolat. Der Tourismus, die zentrale Einkommensquelle, ist zusammengebrochen und kaum jemand kann in Israel arbeiten, weil erforderliche Genehmigungen nicht mehr erteilt werden. Das stellt Menschen vor existentielle Probleme: Viele Familien können die Kosten für Lebensmittel, Wohnen, Arztbesuche sowie das Schulgeld nicht mehr aufbringen. Die Gesundheitsversorgung wird schwieriger. Beispielsweise können Krebspatienten das Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Ost-Jerusalem nicht mehr erreichen. Es ist das einzige Krankenhaus, das für die 4,5 Millionen Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland Strahlentherapie bietet. Das Krankenhaus beklagt Personalengpässe, weil Angestellte aus der Westbank derzeit nicht zuverlässig kommen können.

Aber nicht nur der Zugang nach Israel ist für Palästinenser erschwert, es bestehen auch weitere Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit innerhalb der besetzten Gebiete. Eine Vielzahl neuer Checkpoints und gesperrter Straßen führen zu Wartezeiten und machen teils kilometerweite Umwege erforderlich. Eine Fahrt, die normalerweise 10 Minuten in Anspruch nimmt, kann so eine Stunde oder länger dauern. Dies führt zu einer völligen Unberechenbarkeit des alltäglichen Lebens: Komme ich pünktlich zur Schule, schaffe ich meinen Besprechungstermin?

Da Einreiseerlaubnisse nach Israel in viel geringerem Umfang als vor dem 7. Oktober erteilt werden, können die Kirchensitzungen der ELCJHL jetzt nicht mehr in Jerusalem stattfinden. Dies bedeutet, dass der ELCJHL Jerusalem als spirituelles Zentrum für die gemeinsame Arbeit genommen wurde.

Die vielen zum Teil neuen Checkpoints, an denen auch scharf geschossen wird, anlasslose Hausdurchsuchungen durch die israelische Armee sowie willkürliche Verhaftungen haben vielen Palästinensern den Boden unter den Füßen weggezogen. Hinzu kommt die zunehmende Siedlergewalt, vor allem in kleineren Orten. Palästinenser beklagen einen Kontrollverlust über das eigene Leben und Entmenschlichung. Verstört und voller Angst verlassen sie kaum mehr ihre Häuser, geschweige denn ihre Orte. Existentielle ökonomische Bedrohung, Angst um das eigene Leben sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit führen zu einem Verlust jeglichen Vertrauens. Menschen empfinden ihr Leben als Hölle. Diese Situation führt auch dazu, dass viele ihre Heimat verlassen, weil sie um ihr Leben fürchten. Jeder Mensch braucht sichere Orte wie das eigene Zuhause und das persönliche Umfeld. Diese Orte gibt es für die Menschen im Westjordanland nicht mehr. Dies führt auch zunehmend zu Spannungen innerhalb der Familien und in der Gesellschaft. Die Folgen sind massive psychologische Probleme, deren ganzes Ausmaß erst nach dem Krieg sichtbar werden wird.

Bei unseren Besuchen in den evangelischen Schulen begegneten uns völlig verunsicherte, verstörte Jugendliche. Kinder äußerten Schuldgefühle, dass sie in der Westbank leben, essen können, ein Bett haben und eine Dusche, während in Gaza Familienangehörige getötet werden, Hunger leiden und in Zelten leben. Es gibt Jugendliche, die aus Angst in Ostjerusalem nicht arabisch miteinander sprechen, sondern englisch. Jungen im Teenageralter werden von ihren Eltern mit dem Auto zur Schule gebracht, weil sie Übergriffe befürchten, wenn ihre Söhne zu Fuß an einer Siedlung vorbeigehen müssen.

Nach dem 7. Oktober fand Unterricht mehrere Monate lang nur digital statt, und auch heute wird viel mit Zoom unterrichtet, damit Kinder nicht durch Checkpoints müssen, an denen sie unter Umständen stundenlang aufgehalten werden. In den staatlichen Schulen der Westbank wird fast nur online unterrichtet, dabei haben viele Schülerinnen und Schüler keinen Internetzugang. Unklar ist, ob und in welcher Form das  diesjährige Abitur abgelegt werden kann.

Die Kriegsbilder, aber auch der fehlende Schulunterricht in Präsenz und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit führen bei Kindern und Jugendlichen zu extensivem Medienkonsum. Im palästinensischen Fernsehen und auf YouTube finden sich die grausamsten Bilder, die für eine (kindliche) Seele kaum zu verarbeiten sind. Psychische Auffälligkeiten und mehr Gewalt unter den Schülerinnen und Schülern haben zugenommen. Sie sind traumatisiert, haben keine Zukunftsperspektive und große Verlustängste. „Was ist, wenn meinen Eltern etwas passiert?“ Die evangelischen Schulen versuchen, ihnen in dieser Situation beizustehen. Sozialarbeiterinnen und Religionslehrer bieten Seelsorge, es gibt Aktivitäten um Stress abzubauen: Sport, Bewegung, Kunst, miteinander reden. Aber dies kann nur wenig abfedern.

Keine Hoffnung, keine Zukunftsperspektive – dies führt dazu, dass ganze, vor allem christliche, Großfamilien das Land verlassen. Es sind meist die gut Ausgebildeten, die über finanzielle Ressourcen und Familienangehörige im Ausland verfügen. Damit ist die Zukunft der Christen im Heiligen Land insgesamt noch mehr als bisher gefährdet.

Trotz aller Hoffnungslosigkeit geben aber nicht alle Palästinenser auf, wie das Beispiel der Familie Nasser zeigt. Deren Tent of Nations ist der einzige Hügel in der Gegend um das palästinensische Dorf Nahalin, auf dem sich keine israelische Siedlung befindet. Im Unterschied zu vielen anderen Farmen in den Palästinensergebieten verfügt die Familie über Urkunden, die sie als Eigentümerin ihrer Farm ausweisen. Gleichwohl weigert sich der Staat Israel bislang, diese Eigentumsrechte anzuerkennen. Die Familie muss immer wieder Übergriffe auf ihre Oliven-, Mandel-, Aprikosen- und Apfelbäume hinnehmen. Siedler, geschützt vom Militär, verhindern, dass Familienmitglieder den eigenen Boden bearbeiten können. Die Hauptzufahrtsstraße zum Tent of Nations wurde gesperrt, und es wurde begonnen, widerrechtlich eine Straße für Israelis auf dem Gelände zu bauen. Die Familie Nasser will jedoch nicht resignieren, weggehen oder Gewalt anwenden. Ihr Weg ist der gewaltlose Widerstand. Sie gehen gegen alle Rechtsbrüche juristisch vor, sie kämpfen, um zu bleiben. Ihr Motto, das aus einem tiefen christlichen Glauben resultiert, lautet: „Wir weigern uns Feinde zu sein“. Der Jerusalemsverein ist seit langem mit der Familie Nasser freundschaftlich verbunden. Mit großer Sorge betrachten wir die Vorkommnisse der letzten Monate. Die Delegation war sich einig, dass die Eigentumsrechte der Familie Nasser durch den Staat Israel anzuerkennen sind, dass keine Straße auf dem Grundstück gebaut werden darf und der Hauptzugang zum Grundstück wieder geöffnet werden soll. Auch müssen die Zerstörungen und Einschüchterungen durch Siedler und israelisches Militär gestoppt werden.

Bei unserer beeindruckenden und bedrückenden Reise ist uns deutlich geworden: Es ist unsere Aufgabe, auf das Leid und die große Not unserer Glaubensgeschwister in Jerusalem und der Westbank aufmerksam zu machen – damit sie nicht vergessen werden.

Sybille Möller-Fiedler
stellvertretende Vorsitzende des Jerusalemsvereins

Foto: Eine verlässliche Partnerschaft: Die Delegation des Jerusalemsvereins begegnet Geistlichen und Mitarbeitenden der ELCJHL.