Beit Sahour/Palästina: „Wir hatten noch keinen Fall von Covid-19 in unserer Schule“

Seit März führt sie ein Leben im Ausnahmezustand: Georgette Rabadi ist Schulleiterin der Evangelisch-Lutherischen Schule Beit Sahour. In einem Gespräch beschreibt sie das Schulleben in Zeiten der Covid-19/Corona-Pandemie in Palästina.

Während des Lockdowns im Frühjahr mussten Direktorin Georgette Rabadi und ihr Team von heute auf morgen Online-Unterricht einführen. Seit August findet der Unterricht teils wieder an der Schule, teils noch zuhause statt. Die Situation ist eine langfristige Herausforderung: Rabadi muss ganz neue Wege gehen und will gleichzeitig den Kindern und Eltern in der Krise Stabilität bieten.

Frau Rabadi, wie stark ist Beit Sahour von der Covid-19-Pandemie betroffen?

Beit Sahour gehört zu den Orten in der Westbank, die am heftigsten von der Pandemie getroffen wurden: Viele Menschen haben sich mit dem Coronavirus angesteckt. Das liegt auch daran, dass fast alle hier – im engeren oder weiteren Sinne – verwandtschaftlich miteinander verbunden sind. Und zu Hochzeiten oder Beerdigungen werden dann eben alle eingeladen. Bei solchen Feiern ist das Risiko sich anzustecken recht hoch, weil nicht alle Gäste konsequent ihre Masken tragen. Zum zweiten trifft uns die ökonomische Krise hart. Denn Bethlehem lebt in erster Linie von Einkünften aus dem Tourismus – und die Branche steht seit März beinahe komplett still. Daher haben hier besonders viele Menschen existentielle Verluste. Es gibt einige Familien, die gar kein Geld mehr haben, und viele, die jetzt extrem sparsam leben müssen. In so einer Situation sind Hoffnung und der Glaube wichtig, um Halt zu finden. Doch die Kirchen sind alle geschlossen, die Gemeindearbeit von Angesicht zu Angesicht ruht. Es ist insgesamt eine sehr herausfordernde Zeit.

Worüber machen sich die Menschen am meisten Sorgen?

Ich denke, die größte Angst ist, sich mit dem Virus zu infizieren. Es gab hier zum Glück bisher nur relativ wenige sehr schwere Verläufe von Covid-19. Aber auch einige Todesfälle. Gleich neben der Angst vor dem Virus steht die Angst vor dem wirtschaftlichen Aus. Kein Geld zu haben, keine Arbeit mehr zu haben, davor fürchten sich wirklich alle. Ich persönlich und auch die LehrerInnen, wir sorgen uns, die Schule vielleicht vorübergehend wieder schließen zu müssen. Einige aus meinem Team haben auch Angst vor einem Burnout, denn unser Arbeitspensum ist aufgrund der veränderten Lage enorm.

Was bedeutet das für die Schulkinder? Können die Familien angesichts aller Einbußen noch die Schulgebühren aufbringen?

Das ist in der Tat nicht einfach. Seit Beginn der Pandemie habe ich, unterstützt von meinem Team, mit etwa 220 Familien am Telefon gesprochen und mich nach ihrer Lage erkundigt. Wir haben gemeinsam mit den Eltern Lösungen entwickelt. Viele hatten und haben Schwierigkeiten, ihre Kinder während des Schultags zuhause beim E-Learning zu unterstützen, da sie selbst arbeiten müssen – sei es im Homeoffice oder an ihrem Arbeitsplatz. Sehr viele Eltern sehen E-Learning von zuhause aus nicht als vollwertigen Unterricht an und wollen daher auch nicht dafür zahlen. Deswegen hatten wir – so wie viele andere private Schulen auch – Probleme, die Schulgebühren für das letzte Jahr zu bekommen. In Abstimmung mit den anderen privaten christlichen Schulen in der Westbank haben wir daher die Gebühren für das letzte Halbjahr um 15 Prozent reduziert. In diesem Schuljahr wiederum konnten viele Eltern aufgrund der wirtschaftlichen Lage die Gebühren tatsächlich nicht mehr aufbringen. Deswegen mussten wir andere Finanzierungswege finden, etwa Sponsorenprogramme. Oder wir bieten an, das Geld in Raten zu zahlen. Drei Familien wollten ihre Kinder komplett zuhause lassen, weil sie sich gar nicht mehr in der Lage sahen, das Schulgeld zu zahlen. Zum Glück haben wir da einen guten anderen Weg gefunden!

Wie sieht der Alltag an der Evangelisch-Lutherischen Schule Beit Sahour zurzeit aus?

Seit Anfang des Schuljahres am 29. August findet wieder Präsenzunterricht statt, die SchülerInnen der 12. Jahrgangsstufe, die im kommenden Sommer ihren Abschluss (Tawjihe) machen, begannen bereits am 6. August. Die Klassenstufen 9-12 werden bei voller Stundenzahl in der Schule unterrichtet. Die SchülerInnen der Stufen 1 bis 8 mussten wir dagegen in Gruppen aufteilen: Für eine Gruppe findet eine Woche lang an drei Tagen Präsenz- und an zwei Tagen Onlineunterricht statt. In der Woche darauf ist es umgekehrt: Die erste Gruppe bleibt an drei Tagen zuhause und kommt an den zwei Tagen, an denen wiederum die zweite Gruppe zuhause bleibt. Das entspricht dem Modell des Bildungsministeriums der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Ich hatte Anfang des Schuljahres eine andere Lösung erarbeitet: Ich wollte, dass alle Kinder jeden Tag zur Schule kommen können. Doch das habe ich bei der PA nicht durchbekommen und musste dann über Nacht den neuen Plan erarbeiten. Es war und ist eine große Herausforderung, alle Vorgaben zu berücksichtigen. In der Region Bethlehem gelten für uns sowohl die Pandemie-Auflagen der PA als auch der israelischen Regierung. Ich muss für viele Abläufe einen Plan A, B und C erarbeiten, um für alle Fälle gewappnet zu sein.

Welche Schutzmaßnahmen gelten noch in der Schule?

In den Klassen und auch auf dem Schulhof muss ein Mindestabstand von anderthalb Metern zwischen den Kindern eingehalten werden. Weil unsere Klassenräume nicht so groß sind, nutzen wir nun auch die Aula und eine andere Halle mit für den Unterricht. Alle Räume werden zweimal täglich desinfiziert. Und auf dem Pausenhof haben wir den Boden mit Kreisen in unterschiedlichen Farben markiert – jeweils mit ausreichend Abstand zueinander: Den Kindergartenkindern gehören die roten Kreise, darauf können sie sich aufhalten, den Klassen 1-4 die gelben Kreise und den SchülerInnen der Stufen 5-8 die blauen Kreise. Die älteren Klassen können sich an einer langen roten Linie mit Abstandsmarkern orientieren. Wir achten sehr konsequent auf die Einhaltung dieser Regeln. Viermal am Tag mache ich eine Runde durch die Schule und über den Pausenhof: Wenn ich sehe, dass zwei Kinder eng zusammen stehen und miteinander sprechen, gehe ich zu ihnen und mache klar, dass das zurzeit zu riskant ist.

Diese strengen Regeln immer durchzuhalten, ist für die Kinder und Jugendlichen sicher schwer – noch zusätzlich zur Maskenpflicht.

Natürlich müssen alle auf dem Schulgelände Masken tragen! Für diejenigen, die ihre Maske zuhause vergessen oder unterwegs verloren haben, halten wir Ersatzmasken bereit. Und außerdem messen wir bei allen SchülerInnen morgens die Temperatur. Hat jemand eine Temperatur über 37,5 Grad, nehmen wir sie oder ihn beiseite, geben ein Glas Wasser und messen dann nochmal nach. Denn die Körpertemperatur kann ja auch deshalb leicht erhöht sein, weil jemand sich auf dem Weg zur Schule sehr beeilt und geschwitzt hat. Hat jemand bei der zweiten Messung immer noch erhöhte Temperatur, müssen die Eltern sie oder ihn abholen und nach Hause bringen. Der Zugang zum Schulgeländer ist zurzeit auch strikt reguliert: Eltern dürfen nur mit einer besonderen Genehmigung oder zu einem Termin kommen. Ich weiß, das sind harte Auflagen, aber dafür hatten wir bislang an der Schule noch keinen einzigen registrierten Fall von Covid-19! Darauf bin ich sehr stolz. Denn alle anderen Schulen um uns herum hatten bereits Fälle, einige mussten dann sogar schließen. Das will ich für uns unbedingt vermeiden. Niemand möchte zurück zum reinen Online-Unterricht, auch die SchülerInnen nicht! Deswegen halten sich die meisten sehr gut an die Regeln.

Und welche Auflagen gelten für den Kindergarten?

Unsere Kleinsten können alle täglich in den Kindergarten kommen, allerdings haben wir die Betreuungszeiten gekürzt. Wir öffnen nun erst um 8 und nicht um 7:30 Uhr und schließen mittags bereits um 12:30 Uhr – eine Stunde früher als regulär. Für diejenigen Eltern, die ihre Kinder später abholen müssen, haben wir bis 13:30 Uhr eine Betreuung organisiert, die eine unserer Lehrerinnen übernimmt.

Georgette Rabadi arbeitet seit 11 Jahren für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Jordanien und im Heiligen Land. Bevor sie Schulleiterin in Beit Sahour wurde, war sie sieben Jahre lang in der Schuldministration der ELCJHL tätig. Die 50-jährige Mutter dreier Kinder sagt: „Als erste Frau die Schule in Beit Sahour zu leiten, hat mich stärker gemacht und mir die Kraft gegeben, mit Situationen wie der Corona-Krise fertig zu werden.“

Das Interview erscheint in der Ausgabe 3/2020 der Zeitschrift „Im Lande der Bibel“ mit dem Thema „Die doppelte Herausforderung – Leben mit dem Corona-Virus“.