Jerusalem: Evangelisches Gemeindeleben im Corona-Lockdown

Joachim Lenz ist seit dem Sommer 2020 Propst in Jerusalem. Er berichtet über seinen Amtsantritt in Zeiten der Corona-Pandemie.

Israel ist im Lockdown, während ich diese Zeilen schreibe. Die Corona-Pandemie bremst auch das Gemeindeleben an der Erlöser- und der Himmelfahrtkirche aus. Wegen der Ausgangsbeschränkungen wäre die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst in der Erlöserkirche nur noch denen möglich, die in der Altstadt wohnen – da wären wir zu viert.

Also übertragen wir unsere Gottesdienste, wie schon im Frühjahr, über das Internet. Gemeindeabende, Konzerte, Gespräche, Besuche: All dies liegt brach. Es kommen weder Besuchergruppen noch VolontärInnen ins Land. Das Café Kreuzgang hatte probehalber kurz wieder geöffnet – der Käsekuchen war prima, allerdings kamen fast keine Gäste. Woher auch?

Israel nimmt seit Wochen einen weltweiten Spitzenplatz bei den Neuinfektionen ein, in der Westbank und im Gazastreifen sieht es nicht besser aus. Was für unsere Gemeinde in Jerusalem traurig und schwierig ist, nimmt für unsere Nachbarn oft existenzbedrohende Züge an: Die meisten Läden in der Altstadt sind seit Monaten geschlossen. Hinter jeder verriegelten Tür steht aber wirtschaftlich doch eine Familie!

Die Mitarbeitenden aus der Propstei und dem (seit März geschlossenen) Gästehaus, die in der Westbank wohnen, werden morgens nicht durch die Checkpoints nach Jerusalem hineingelassen. Sie bleiben bei uns angestellt, so lange es irgend geht. Insgesamt sieht es für viele Menschen leider anders aus: Die Arbeitslosenquote hat in Israel die 20-Prozent-Grenze überschritten, für die palästinensischen Gebiete fehlen die Zahlen – besser wird die Lage dort sicher nicht sein.

Als ich Mitte Juli aus Deutschland eingereist war, standen erst einmal zwei Wochen Corona-Quarantäne an. Die durfte ich mit großer Dienstwohnung und Terrasse sehr privilegiert verbringen. Die Gemeinde versorgte mich: Ich gab telefonisch durch, was ich brauchte, schaute zwei Stunden später vor die Wohnungstür – und konnte die gefüllten Einkaufstaschen in die Wohnung hereinholen. An dieser Stelle noch einmal ein ganz herzlicher Dank für dieses warmherzige Willkommen in Jerusalem!

Ohne den Blick auf die verschlossenen Geschäfte im Muristan und ohne die manchmal unwirkliche Stille in der Altstadt wäre es unbeschwerte Anfangszeit gewesen.

Am 1. August begann meine Dienstzeit. Zu dem Zeitpunkt waren immerhin Gottesdienste im Kreuzgang der Erlöserkirche möglich. Bis zu 20 Menschen war es erlaubt, unter freiem Himmel zusammenzukommen. Es gab einen kleinen, dafür wunderschönen Einführungsgottesdienst für mich – mit Dank und Verabschiedung für Dr. Rainer Stuhlmann, der elf Monate lang den Dienst als Propst übernommen hatte.

Jenseits der Sonntage war es ruhig, denn es war Ferienzeit. Während der sind auch sonst keine Konzerte, Chortreffen oder Gemeindeabende vorgesehen. Nach den Schulferien sollte es im Rahmen des Möglichen wieder losgehen: Stattdessen kam der nächste Lockdown.

Als Student habe ich gelernt, dass wir Christenmenschen die „Kommunikation des Evangeliums“ vorantreiben sollen. Was wir im Gottesdienst, in der Gemeinde oder als Kirche nach außen hin tun, ist Kommunikation: mit Gott oder im Namen Gottes, mit Herzen, Mund und Händen. Das beschreibt gut, wozu wir da sind, meine ich. Aber wie soll das während der Pandemie gehen?

Kommunikationsbeschränkungen treffen uns ins Mark – das gilt im Heiligen Land genauso wie in Deutschland. Zu unserer Gemeinde in Jerusalem gehören nicht nur die Menschen, die hier dauerhaft wohnen. Sondern immer auch jene, die temporär in der Stadt leben: Freiwillige aus Volontärsprogrammen und NGOs, Studentinnen und Studenten. PilgerInnen und TouristInnen, Gemeindegruppen, Bildungsreisende – zurzeit ist niemand von ihnen im Land. Unsere Gemeinde ist daher plötzlich sehr klein geworden – und die Gemeindeglieder leben über ein großes Gebiet verteilt.

Als Propst und Pastor soll und will ich Kommunikator sein: also auf Gott und die Welt ansprechbar sein, zu Begegnung und Gespräch, zu Gesang und Gebet einladen, Menschen miteinander ins Gespräch bringen und beim Lösen von Problemen helfen. Für all das habe ich nun einen Zoom-Zugang freigeschaltet. Denn die Altstadt darf ich wegen des Lockdowns nur in besonderen Ausnahmefällen verlassen.

Jedoch: Auch wenn das reguläre Gemeindeleben weitgehend zum Erliegen gekommen ist – wir leben. Unsere Gemeinde hält telefonischen Kontakt zu den Mitgliedern, die altersbedingt vielleicht besondere Unterstützung brauchen. Die Stiftungen verfolgen ihre langfristigen Projekte unermüdlich weiter. Was jetzt gebremst ist, wird doch weiterfahren. Dazu kommen sogar ein paar positive Dinge, die es ohne Corona nicht gäbe: sehr ausführliche, tiefgehende Gespräche zum Beispiel mit denen, die in der Botschaft in Tel Aviv und im Vertretungsbüro Ramallah Verantwortung tragen. Wir leben. Das Gefühl, nicht in Gottes Hand zu sein, mag sich einfach nicht einstellen.

Die wenigen Menschen, die es hierher zur Arbeit schaffen, erlebe ich als unverdrossen zuversichtlich. Überfällige Renovierungsarbeiten in der Propstei werden in Angriff genommen. Da füllen Menschen aus den Freundeskreisen unseren Sozialfonds für Bedürftige auf, sodass wir helfen können, auch wenn es keine Gottesdienste mit Geldkollekten gibt.

Die acht Mitarbeitenden des Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft führten in der Sommerhitze am Zionsfriedhof eine wissenschaftliche Grabung durch, auch wenn 40 angemeldete Freiwillige fehlten – und werden anschließend den Stadtplan des biblischen Jerusalems wissenschaftlich begründet an wichtigen Stellen neu zeichnen.

Es gibt also viele Lichtblicke in dieser schwierigen Zeit. Ich freue mich darauf, die Stadt Jerusalem und das Heilige Land wieder bevölkert und ohne Angst vor Ansteckung zu erleben – und mit vielen ins direkte Gespräch zu kommen.

Joachim Lenz

Anmerkung der Redaktion: Am 18. Oktober wurde der zweite Corona-Lockdown in Israel beendet. Seitdem finden sonntags wieder Gottesdienste im Kreuzgang der Erlöserkirche statt – mit maximal 20 Personen. In geschlossenen Räumen, auch in Kirchen, dürfen sich nur bis zu zehn Menschen versammeln. Die Einreise ins Heilige Land bleibt auf wenige Personen beschränkt, der Besuch von Gemeindegruppen und Einzelreisenden ist weiterhin nicht möglich. Die für den Reformationstag geplante gottesdienstliche Einführung von Propst Lenz ist bis auf weiteres verschoben.

Der Artikel erscheint in der Ausgabe 3/2020 der Zeitschrift „Im Lande der Bibel“ mit dem Thema „Die doppelte Herausforderung – Leben mit dem Corona-Virus“.