04.03.2025 | Am 2. März 2025 feierte der Jerusalemsverein sein 172. Jahresfest. Die Bildung in Palästina und die evangelischen Schulen standen im Mittelpunkt des Festnachmittags.
Eröffnet wurde das Jahresfest mit einem Gottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin-Mitte. Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, der Vorsitzende des Ökumenischen Rates der Kirchen, predigte über Amos 5,21-24.

Bedford-Strohm: Empathie wichtig im Nahostkonflikt
Beim Festnachmittag im bis auf den letzten Platz gefüllten großen Hörsaal des Kaiserin-Friedrich-Hauses betonte Bedford-Strohm im Gespräch mit Moderator Marc Frings, dass im Konflikt um Israel und Palästina die Empathie für die jeweils andere Seite der Schlüssel zur Verständigung sei. Es gehe darum, über extreme emotionale Gräben hinweg ins Gespräch zu kommen, auch mit Menschen, die die andere Sicht vielleicht noch nie gehört haben.
Podiumsgespräch zum Thema „Bildung in Palästina“
Zum Thema „Evangelische Bildung in Palästina – Perspektiven in Zeiten der Krise“ diskutierten anschließend der deutsche Schulleiter und die palästinensische Schulleiterin von Talitha Kumi, Birger Reese und Laura Bishara, mit Eva Azar, der stellvertretenden Bildungsdirektorin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land (ELCJHL). Azar ist zuständig für die evangelischen Schulen in Beit Sahour, Bethlehem und Ramallah.
Laura Bishara betonte, dass in Talitha Kumi die Verständigung und die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler eine zentrale Rolle spielen. Dazu tragen beispielsweise die Morgenandachten bei, in denen Muslime und Christen gemeinsam beten und Themen wie Liebe, Verständnis und Toleranz behandelt werden. In vielen Programmen und AGs können sich die Kinder und Jugendlichen zu starken Persönlichkeiten entwickeln und Empowerment erfahren. Sie lernen, Kompromisse zu finden und auch in Konfliktsituationen im Gespräch zu bleiben.

Birger Reese hob eines dieser Programme hervor, die Model United Nations (MUN), bei denen Sitzungen der Vereinten Nationen simuliert werden. „Die Ernsthaftigkeit und Intensität, mit der das in Talitha betrieben wird, ist schon bemerkenswert“, sagte Reese. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich intensiv mit den Interessen verschiedener Länder auseinander und verhandeln diese in den Gremien der Vereinten Nationen. Dabei lernen sie zu debattieren, zu argumentieren und Rhetorik.
Schule Talitha Kumi: besondere Unterrichtskultur
Eine Besonderheit von Talitha Kumi ist der Status als Deutsche Auslandsschule. Reese führte aus, dass das einen bestimmten Qualitätsrahmen mit sich bringt, den die Schule erfüllen muss. In dem Rahmenlehrplan seien wesentliche Elemente der Lernkultur, der didaktischen Prinzipien und der methodischen Prinzipien verankert. „Wir haben eine Unterrichtskultur, die den Schüler in den Mittelpunkt stellt. Uns ist ein Empowerment wichtig, das kritisches Denken fördert und Handlungsorientierung bedient. Damit wollen wir die Schülerinnen und Schüler fit machen. Das ist die Grundlage unserer Unterrichtskultur und wird in der Schule täglich gelebt. Vielleicht macht uns das als Schule in der Region ein bisschen einzigartig“, sagte er.
Bishara berichtete, dass Talitha Kumi eine Vorbildfunktion für staatliche Schulen habe. Eine Gruppe der Schulaufsicht vom Bildungsministerium zeigte sich nach dem Besuch des Kunstunterrichts in Talitha Kumi erstaunt: „Was für eine gute Arbeit hat dieser Lehrer im Unterricht gemacht! Es war richtig schön anzuschauen. Alles ist so gut gelaufen … Wir würden gerne zehn Lehrkräfte zur Hospitanz in diesen Unterricht schicken“, hieß es aus der Gruppe. Auch das außerschulische Programm inspiriere die staatlichen Schulen, die jetzt beispielsweise auch Model United Nations in arabischer Sprache anbieten.
Die Krise in Palästina hat sich mit dem Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Gaza-Krieg auch im Westjordanland mit zahlreichen zusätzlichen Checkpoints, Straßensperren, israelischen Militäreinsätzen und zunehmender Gewalt durch Siedler weiter verschärft. Dies stellt die Schulen vor eine Reihe von Herausforderungen.
Hoffnung bewahren – trotz starker Migrationsbewegung
Eine davon ist die Abwanderung von Schulabgängern ins Ausland. Eva Azar sagte, dass viele Schülerinnen und Schüler es kaum erwarten könnten, das Abitur zu machen und dann das Land zu verlassen. Sie betonte, dass die Gesellschaft insgesamt und insbesondere die Kirchengemeinden und Familien die jungen Erwachsenen brauchen: „Wir bekommen unsere Energie durch unsere jungen Menschen.“ Ermutigung erfahre sie von denen, die sich bewusst dafür entschieden hätten, in Palästina zu bleiben und sich den Problemen des Landes zu stellen, die an den Frieden glaubten und sich die Hoffnung bewahrt hätten. Azar sieht darin ein großes Vertrauen in die evangelischen Schulen und ihre internationalen Partner als Schutzschild und Förderer für die jungen Menschen. „Wir sind sicher, dass die Samen, die wir mit unseren Schulen säen, ihnen eine gute Zukunft geben werden“, sagte sie und verwies auf die palästinensische Tugend Sumud (Widerstandsfähigkeit). „Wir bewahren unsere Hoffnung und ermutigen uns gegenseitig. Wir wissen, dass Gott uns nicht im Stich lässt“.

Sicherheitslage und eingeschränkte Bewegungsfreiheit als Herausforderung
Birger Reese nannte die angespannte Sicherheitslage als eines der größten aktuellen Probleme für Talitha Kumi. Es gebe ein großes Unsicherheitsgefühl, und der Schulbetrieb werde durch bestimmte Ereignisse gestört. „Das ist eine riesige Herausforderung“, sagte er. Eine weitere sei die wirtschaftliche Situation mit 80 Prozent Arbeitslosigkeit und dem brachliegenden Tourismus in einer Region, die davon lebt. „Das ist atmosphärisch bedrückend und allenthalben greifbar.“
Mit Blick auf die Sicherheitslage ergänzte Laura Bishara, dass sie von manchen Familien gefragt werde, ob es nicht möglich sei, wegen der teilweise schwer erreichbaren Schule wieder den Online-Unterricht einzuführen, wie in den Tagen nach dem 7. Oktober 2023. Dazu sagte sie: „Ich weiß, dass es vielleicht einfacher ist, von zu Hause aus am Online-Unterricht teilzunehmen. Aber wir wollen ganz bewusst die Normalität fördern, dass die Schüler in die Schule kommen und ihre Freunde treffen. Diese Normalität ist uns wichtig, auch wenn wir damit leben müssen, dass einige deutlich zu spät kommen. Wichtig ist, dass in diesen Zeiten alle in der Schule sind.“ Bishara betonte, dass der Schulweg für alle unsicherer geworden sei, für die Schülerinnen und Schüler aus Hebron oder Jerusalem genauso wie für jene aus Bethlehem oder Beit Jala. Alle müssten Checkpoints passieren, die oft geschlossen seien. „Das war früher nicht so“, fügte sie hinzu.
Christliche Schulen in Palästina geschätzt
Moderator Marc Frings, von 2015 bis 2019 Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah, stellte einer Frage zu einem neuen Thema eine eigene Beobachtung voran. „Die erschreckendsten Bilder von Militär durch Palästinenser habe ich immer dann beobachtet, wenn Lehrerinnen und Lehrer streikten. Nie war die Militärpräsenz in Ramallah größer, als wenn für faire Löhne demonstriert wurde“, sagte er. Daran schloss er die Frage an, ob die Schulen nicht nur unter den Restriktionen des israelischen Militärregimes litten, sondern auch unter dem wachsenden Autoritarismus der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die im digitalen wie im analogen Raum immer härter gegen die eigene Bevölkerung vorgehe.
Eva Azar antwortete, dass es im Bildungsbereich keine Probleme mit der PA gebe und die Privatschulen, insbesondere die rund 80 christlichen Schulen in der Westbank, sehr respektiert würden und große Freiheiten genössen. Der Dachverband aller christlichen Schulen habe gute Kontakte zum Bildungsministerium und könne dort mit allen Problemen vorstellig werden. Die Anerkennung der christlichen Feiertage sieht sie als weiteres Zeichen der guten Beziehungen zur PA. Außerdem gebe es dort hochrangige Personen, die ihre Kinder bewusst auf die evangelischen Schulen schickten.

Wie sieht die Zukunft der Christen im Heiligen Land aus?
Zum Abschluss des Podiumsgesprächs sagten die drei Teilnehmenden etwas zu einem mitgebrachten Gegenstand, der Symbol für ihren Alltag ist. Eva Azar zeigte ein Kreuz und sagte: „Das ist das Kreuz, das Jesus vor 2000 Jahren getragen hat. Und jetzt sind wir es, die es tragen. Auf unserem Weg. Das Kreuz erinnert mich auch an die Mission, an die Vision und an die Botschaft, die wir haben als Christen hier im Heiligen Land. Wir wurden als Gottes Ebenbild erschaffen. Jeder ist einmalig und wertvoll vor Gott.“ Mit dem Kreuz in der Hand fragte sie, wie die Zukunft der Christen im Heiligen Land aussieht. „Werden unsere Kirchen eines Tages Museen werden? Oder haben wir die Kraft weiterzumachen?“
Birger Reese zeigte eine Friedenstaube aus Olivenholz, das Logo von Talitha Kumi. Er erzählte, dass er sie von einem Besuch der Schule im Rahmen seiner Bewerbung mitgebracht und in Hannover in der Küche aufgehängt habe. Sie stehe für seine Entscheidung, nach Talitha zu gehen, die ihm nicht leichtgefallen sei, und für das Besondere und Reizvolle an Talitha Kumi. Denn die Olivenholzarbeiten werden von einer Gruppe von Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten in einem inklusiven Projekt hergestellt. „Das ist total berührend. Ich gehe dort regelmäßig hin und schaue zu“, sagte er.
Die Hand von Laura Bishara war mit einigen Murmeln gefüllt. „Viele Kinder bringen Murmeln in die Schule mit spielen mit ihnen“, erzählte sie. Einige Lehrkräfte haben sich beschwert: „Sie haben so viele Murmeln und denken immer nur ans Spielen und lernen nichts mehr. Was soll das?“ Den Forderungen, das Spielen mit Murmeln zu verbieten, ist die Schulleitung aber nicht nachgekommen, weil es die Schülerinnen und Schüler zusammenbringt. „Das tut ihnen gut“, ist sich Bishara sicher.
Schulen in Palästina
In Palästina besteht eine allgemeine Schulpflicht für Kinder zwischen dem 6. und 15. Lebensjahr. Bis zur zehnten Klasse gibt es eine einheitliche Schulausbildung. Danach besteht die Möglichkeit, nach zwei Jahren das Abitur (Tawjihi) abzulegen, als allgemeines Abitur im naturwissenschaftlichen oder literaturwissenschaftlichen Zweig sowie als Fachabitur.
Ein Großteil der 3190 Schulen ist staatlich, dazu kommen Privatschulen (die meisten davon mit kirchlichen Trägern) und die Schulen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA). In der Westbank gibt es 2.394 Schulen mit 774.568 Schülerinnen und Schülern. In Gaza wurden im Krieg 496 Schulgebäude (88 %) zerstört oder erheblich beschädigt. 12.467 Schüler sowie 569 Lehrkräfte starben. Mehr als 658.000 Schüler können nicht zur Schule gehen.

Mädchen weisen eine signifikant höhere Abschlussquote auf. Ein Grund dafür ist, dass Jungen häufiger dazu herangezogen werden, einen Teil des Haushaltseinkommens zu verdienen. Die Abschlussquote hängt auch stark vom Haushaltseinkommen ab. Im Segment der ärmsten Haushalte haben nur 48 Prozent der 18- bis 20-Jährigen einen Sekundarschulabschluss. Diese Zahlen spiegeln die Situation vor dem Gaza-Krieg wider.
Quellen: Palestinian Central Bureau of Statistics, OCHA, UNICEF: Palestine Education Fact Sheets 2022
Aktualisiert am 03.04.2025
Fotos: Henrik Weinhold (1, 3, 6) und Gerd Herzog (2, 4, 5)