Die Zukunft der Christen im Heiligen Land – Beiträge vom 170. Jahresfest

14.03.2023 | Auf dem 170. Jahresfest des Jerusalemsvereins diskutierten Gäste aus Nahost die Perspektiven der Christen in Israel und Palästina.

Die Christen sind im Heiligen Land eine kleine Minderheit. In der Westbank leben etwa 60.000, im Gazastreifen 1.000 und in Israel 120.000 Angehörige unterschiedlicher christlicher Konfessionen. In Bethlehem, dem Geburtsort von Jesus, und den Nachbarstädten Beit Jala und Beit Sahour bildeten die Christen über Jahrhunderte die Mehrheitsbevölkerung. Heute sind sie auch hier eine Minderheit.

Vor allem durch die Auswanderung ist der christliche Bevölkerungsanteil in Palästina in den letzten Jahrzehnten stetig kleiner geworden. Etwa 300.000 christliche Palästinenser leben in der Diaspora, doppelt so viele wie im Heiligen Land. Wirtschaftlich-soziale Faktoren im Kontext der Besatzung geben in den meisten Fällen den Anstoß auszuwandern.

Auf dem 170. Jahresfest des Jerusalemsvereins sprachen Gäste aus Nahost über die Perspektiven der Christen im Heiligen Land angesichts dieser Entwicklung. Hala Tannous, Mitglied des Church Councils der ELCJHL, hielt den Hauptvortrag und diskutierte die Zukunft der Christen in Israel und Palästina auf dem Podium mit Bischof Sani Ibrahim Azar (ELCJHL), Matthias Wolf, Schulleiter von Talitha Kumi, seiner Schülerin Lujain Musallam (11. Klasse), Areej Isaac, Absolventin der evangelischen Schule in Beit Sahour, und Ulrich Seelemann, stellvertretender Vorsitzender des Jerusalemsvereins.


Hala Tannous: Palästinensische Christen sind in der Urgemeinde verwurzelt

Hala Tannous berichtete in ihrem Vortrag, dass sie im Ausland als Palästinenserin bzw. als Araberin häufig automatisch für eine Muslima gehalten werde und Menschen überrascht reagierten, dass sie eine Christin und sogar eine lutherisch-arabische Christin sei. Dem hielt sie entgegen, dass ihre Familie schon seit Hunderten von Jahren christlich und dass darüber hinaus das Christentum in ihrer Heimat  entstanden sei.


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„Das Christentum wurde im Nahen Osten, in einer kleinen Stadt namens Bethlehem, geboren … Christen sind im Heiligen Land indigen. Das Christentum mag für viele ein europäisches Phänomen zu sein scheinen. Das ist ein Irrtum, denn das Christentum ist eine westasiatische, „palästinensische“ Erfahrung. Jesus Christus wurde in Palästina geboren, wo er aufwuchs, lehrte, litt, gekreuzigt wurde und wieder auferstand. Die ersten christlichen Gemeinschaften sind in Palästina entstanden. Die palästinensischen Christen verstehen sich als Nachfahren dieser ersten jüdischen und nichtjüdischen Christen, die eine turbulente Geschichte von 2000 Jahren überstehen konnten. Das Christentum wurde also nicht nach Palästina importiert. Vielmehr ist das Christentum ein „palästinensisches Markenzeichen“.

Christen im Heiligen Land – eine kleine Minderheit

Die Christen seien im Laufe der Zeit aber zu einer Minderheit geworden, mit einem Anteil von nur noch etwa 2 % an der Gesamtbevölkerung in Israel und Palästina. Diese Minderheit lebe größtenteils in der Umgebung der heiligen Stätten, vor allem in und um Bethlehem, Jerusalem, Nazareth und Galiläa. „Die Christen haben sich immer für den Schutz und die Verteidigung dieser Kirchen und Stätten verantwortlich gefühlt, aber sie fühlten sich dort auch in Zeiten der Verfolgung und Unterdrückung sicher.“

In der Auswanderung sieht Halla Tannous die Ursache für den drastischen Rückgang des christlichen Bevölkerungsanteils in Palästina: „Aufgrund der Auswanderung lebt die Mehrheit der palästinensischen Christen in der Diaspora. Die sozioökonomische und politische Lage ist nach wie vor der Hauptgrund für diese Auswanderung. Der Zusammenbruch des „Friedensprozesses“ zwingt immer mehr Christen zur Auswanderung, um eine bessere Zukunft für ihre Kinder zu suchen. Wenn dieser Trend anhält, wird sich das Heilige Land bald in Vergnügungsparks christlicher Geschichte verwandeln und nicht in einen Ort des lebendigen christlichen Zeugnisses und Dienstes.“

Nach innen kennzeichne eine ausgeprägte Vielfalt die Christen in Palästina und Israel, mit 39 verschiedenen christlichen Konfessionen allein in Jerusalem. „Diese Vielfalt an Konfessionen ist einzigartig. Sie ist gleichzeitig ein Segen und ein Fluch, denn darin liegt die Stärke, aber auch die Schwäche der palästinensischen christlichen Gemeinschaft, ein Zeichen von Reichhaltigkeit in Vielfalt und gleichzeitig eine Quelle von Konflikten und Widrigkeiten.“ Nach außen biete die Christenheit in der Region der Welt ein Beispiel für „gesunde christlich-muslimische Beziehungen“.

Die Perspektive der Jugend

Bei der Frage nach der Zukunft der Christen im Heiligen Land setzt Tannous einen Schwerpunkt bei der Jugend. Wie können Jugendliche Vertrauen entwickeln, dass sie eine Zukunft im Heiligen Land haben? Junge Menschen sehnten sich in Palästina vor allem nach einem sicheren Umfeld. Auf dem Weg dorthin stünden Hindernisse aus unterschiedlichen Bereichen im Weg:

  • die Besatzung und die politische Spaltung
  • die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage und die (Jugend-) Arbeitslosigkeit
  • der Mangel an Rechtsstaatlichkeit
  • der Mangel an Bewegungs- und Meinungsfreiheit

Welchen Beitrag kann aber die Kirche leisten und welche Maßnahmen kann sie umsetzen, um Palästina in ein sicheres Lebensumfeld zu verwandeln:

  • Empowerment von Jugendlichen
  • politisch Verantwortliche auffordern, Partizipation von Jugendlichen zu ermöglichen und auf deren Initiativen, Projekte, Ideen und Haltungen einzugehen
  • junge Menschen einladen,  in der Kirche als Laien oder als Pfarrerinnen und Pfarrer mitzuarbeiten.
  • Förderung der Akzeptanz und Integration von Randgruppen und Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft
  • Förderung des Beitrags der Jugend zur Friedensschaffung und Gewaltfreiheit

Nirit Sommerfeld mit Andi Arnold und Jan Eschke

Musikalische Highlights mit Nirit Sommerfeld

Wie schon auf dem 168. Jahresfest hat Nirit Sommerfeld mit Musikern vom Orchester Shlomo Geistreich, Andi Arnold (Klarinette) und Jan Eschke (Piano), den Festnachmittag musikalisch begleitet. Das Publikum im fast voll besetzten großen Saal des Kaiserin-Friedrich-Hauses war begeistert.


Podiumsgespräch


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Bischof Sani Ibrahim Azar: das Erbe der Mission im 19. Jahrhundert weiterentwickeln

Bischof Azar betonte, dass vieles, was die Christen im Heiligen Land heute charakterisiert und was sie auch zukunftsfähig macht, ein Erbe der Mission im 19. Jahrhundert ist. „Wir sind eine Kirche der Reformation und Kirche der Reformation zu sein heißt, immer nach vorne zu schauen. Was brauchen die Menschen am meisten? Wie können wir, wie kann die Kirche die Menschen in ihrem Leben unterstützen?“

Zu den kirchlichen Arbeitsfeldern der ELCJHL, die in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind zählt Azar:

  • die evangelischen Schulen
  • die diakonische Arbeit
  • die Jugendarbeit
  • die Umwelterziehung
  • und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau

Bei diesem kirchlichen Dienst in der Gesellschaft komme es darauf an, sich nicht nur für und mit Lutheranern oder Christen einzusetzen, sondern alle Bevölkerungsgruppen im Blick zu haben. Das soll auch zu einer breiten Verständigung führen, damit sich die Menschen gegenseitig akzeptieren: Christen unterschiedlicher Konfessionen, Muslime und Christen etc. Das hätten schon früher die Missionare verstanden, die ganz nahe bei den Menschen im Heiligen Land gelebt und ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt haben.

Aufgabe der Kirche sei es, Orte zu schaffen,  wo Menschen sich begegnen können: jung und alt, Menschen verschiedener Religionen … das könnte „eine positive Entwicklung in der Gesellschaft anstoßen, damit der eine den anderen versteht und akzeptiert wie er ist“.

Schulleiter Matthias Wolf: Talitha Kumi erzieht auch zur gesellschaftlichen Verantwortung

Welche Rolle spielen die evangelischen Schulen für die Zukunft der Christen im Heiligen Land? In seinen Redebeiträgen wies Schulleiter Matthias Wolf auf einen Zwiespalt hin und stellte sich selbst die Frage, ob die Arbeit der evangelischen Schulen wie Talitha Kumi nicht dazu beitrage, dass Christen auswandern. In der Tat orientierten sich viele Schülerinnen und Schüler nach Deutschland und strebten ein Studium im Ausland an. Wolf betonte aber, dass der Erziehungsauftrag von Talitha Kumi weiter gehe als die formale Bildung: „Wir erziehen zur Verantwortung gegenüber der Familie, dem Land, der Gegend, aus der ich komme.“

Wolf sieht einen Hoffnungsschimmer: Zunehmend kämen Menschen aus Verantwortung gegenüber ihrer Heimat zurück, mit dem Anliegen, etwas zu gestalten. Er erzählte von einem Schüler der auf seine Frage, was er nach dem Abitur machen wolle, damit antwortete, dass er in Deutschland Jura studieren möchte und danach zurückkommen und in seinem Land für Recht sorgen wolle. Daraufhin Wolf: „Mabrouk (Glückwunsch), wenn das gelingt, wenn Du diese Flamme in Dir aufrecht hältst, diesen Wunsch, wieder Teil deiner Gesellschaft zu sein, dann hätten wir ein Stück dazu beigetragen, durch unsere Bildung, unsere Erziehung in Talitha Kumi. Ich wünsche mir, dass wir das auch in die Herzen der Menschen legen, dass sie Salz und Licht der Welt sind – wie wir es auch in der Bibel lesen – und es ist auch die Aufgabe unserer Erzieherinnen und Erzieher, unserer Lehrerinnen und Lehrer, das den Menschen mitzugeben.“

Und was denken Jugendliche über die Zukunft der Christen im Heiligen Land? Zu Gast beim Jahresfest waren auch zwei junge Palästinenserinnen: Lujain Musallam, eine Schülerin aus Talitha Kumi (11. Klasse) und Areej Isaac, Absolventin der evangelischen Schule in Beit Sahour.

Lujain Musallam: Die Christen in Palästina müssen zusammenrücken

„Ich glaube als palästinensische Christin daran, dass die Christen eine wichtige Rolle in Palästina spielen und dass wir insbesondere einen sozialen aber auch einen wirtschaftlichen Einfluss haben. Ein Beispiel dafür: Es gibt bei uns viele Krankenhäuser, die christlich sind, Schulen und Universitäten. Das alles, obwohl wir sehr wenige sind, nur 1 % von der Gesamtbevölkerung. Meine Befürchtung ist, dass die Christen immer weniger werden und dass das Leben für uns vielleicht schwieriger wird und dass wir dann immer weniger aktiv in der Gesellschaft mitwirken können.

Viele Christen wollen ins Ausland gehen, um ein besseres Leben zu haben, um zu studieren oder zu arbeiten, und viele von denen, wenn nicht die meisten, kommen nicht nach Palästina zurück. Aber das macht es immer schwieriger, weil wir diese Christen, die im Ausland sind, brauchen. Wenn diese Menschen nach Palästina zurückkehren würden, dann könnten Sie deutlich zum Aufbau und zur Entwicklung dieses Landes beitragen.

Ich finde, die Christen in Palästina müssen noch mehr zusammenarbeiten. Es wäre auch schön, wenn es regelmäßige Treffen und Veranstaltungen für die christlichen Jugendlichen gäbe, damit der Zusammenhalt zwischen den Christen gestärkt wird, unabhängig davon, welcher Konfession man angehört. Außerdem müssen wir den Bildungssektor noch weiter entwickeln. Die christlichen Schulen sollen weiterhin aktiv sein, da Bildung ein sehr wichtiger Faktor für die Entwicklung der Palästinenser ist. Durch den Bildungssektor können wir als Christen viele Menschen in diesem Land erreichen, die Kommunikation mit Menschen anderer Glaubensrichtung stärken sowie eine Vorstellung vom Christentum vermitteln.“

Areej Isaac: In Deutschland studieren, in Palästina arbeiten

„Ich heiße Areej, bin 18 Jahre alt, und komme aus Beit Sahour in der Nähe von Bethlehem. Letzten Sommer habe ich mein Abitur an der Evangelich-Lutherischen Schule in Beit Sahour absolviert. Jetzt wohne ich in Clausthal und lerne Deutsch, damit ich an einer deutschen Universität studieren kann.

Nachdem ich mein Studium abgeschlossen habe, werde ich nach Palästina zurückkehren. Ich bin sicher, dass Gott keine Fehler macht: Ich wurde in Palästina, in Bethlehem, im Heiligen Land geboren, und ich werde dort leben und arbeiten, um so vielen Menschen wie möglich helfen zu können. Ich glaube, dass jeder palästinensische Christ, Mann oder Frau, eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Deshalb hoffe ich, dass die Palästinenser, die im Ausland leben, zurückkommen und dass unsere Kirche in Palästina wieder wächst. Vielleicht werden meine Kinder eines Tages in die Jugendcamps der Kirche oder zu den Pfadfindern gehen, so wie ich es getan habe. Dort traf ich Lujain und viele andere gute Freunde und Freundinnen, und ich habe einige meiner besten Erinnerungen dort gesammelt.“